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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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§ 26.
Materie der praktischen Uebung und Lehre.
Erste Stufe: Hauserziehung.

Auf Grund alles Vorausgeschickten versuchen wir nun
auch in materialer Hinsicht zu zeigen, wie in konkreter Ge-
meinschaft von Stufe zu Stufe der Mensch sich bildet zur Ge-
meinschaft, zur Teilnahme an dem endlichen Prozess, in dem
die Gemeinschaft der Menschen und mit ihr ein menschliches
Leben sich gestaltet.

Der untersten Stufe, der der Hauserziehung, gehört vor-
zugsweise das Gebiet der dritten der individuellen Tugenden
und die dieser entsprechende Seite der Tugend der Gemein-
schaft zu. Es ist das Gebiet der "Reinheit", oder der sitt-
lichen Regelung des Trieblebens in Arbeit und Genuss, damit
aber der ökonomischen Thätigkeit im früher bestimmten, um-
fassenden Sinn. Die natürliche Stätte der Erziehung nach
dieser Richtung ist das Haus, in dem allein auch die ent-
sprechende Art der willenbildenden Thätigkeit sich rein in
ihrer Eigenart entfalten kann.

Es ist zwar eigentlich noch nicht Wille, was auf dieser
Stufe entwickelt wird, sondern erst die rechte Disposition zur
Willensbildung, die dafür geeignete Triebrichtung. Aber ge-
rade dass hier der rechte Grund gelegt wird, ist von der
grössten Wichtigkeit. Die seelische Entwicklung steht hier
noch im unmittelbarsten Zusammenhang mit der physischen.
Die leibliche Fürsorge für das Kind und das so früh sich ent-
wickelnde Verständnis dieser Fürsorge in ihm selbst, in der
wortlosen Zwiesprache zwischen Mutter und Säugling, das
ist, wie Pestalozzi gesehen, das erste, grundlegende Bildungs-
element des Willens, wenn auch grundlegend nur im Sinne
der günstigen Bereitung des Bodens. Indem das zarte, so
ganz physische und doch so ganz seelische junge Menschlein
dies mit oft schon sehr bestimmtem und starkem Gefühl er-
greift und sich fest der mütterlichen, bald auch der väterlichen
und geschwisterlichen Sorge und Zärtlichkeit anschmiegt, tritt

§ 26.
Materie der praktischen Uebung und Lehre.
Erste Stufe: Hauserziehung.

Auf Grund alles Vorausgeschickten versuchen wir nun
auch in materialer Hinsicht zu zeigen, wie in konkreter Ge-
meinschaft von Stufe zu Stufe der Mensch sich bildet zur Ge-
meinschaft, zur Teilnahme an dem endlichen Prozess, in dem
die Gemeinschaft der Menschen und mit ihr ein menschliches
Leben sich gestaltet.

Der untersten Stufe, der der Hauserziehung, gehört vor-
zugsweise das Gebiet der dritten der individuellen Tugenden
und die dieser entsprechende Seite der Tugend der Gemein-
schaft zu. Es ist das Gebiet der „Reinheit“, oder der sitt-
lichen Regelung des Trieblebens in Arbeit und Genuss, damit
aber der ökonomischen Thätigkeit im früher bestimmten, um-
fassenden Sinn. Die natürliche Stätte der Erziehung nach
dieser Richtung ist das Haus, in dem allein auch die ent-
sprechende Art der willenbildenden Thätigkeit sich rein in
ihrer Eigenart entfalten kann.

Es ist zwar eigentlich noch nicht Wille, was auf dieser
Stufe entwickelt wird, sondern erst die rechte Disposition zur
Willensbildung, die dafür geeignete Triebrichtung. Aber ge-
rade dass hier der rechte Grund gelegt wird, ist von der
grössten Wichtigkeit. Die seelische Entwicklung steht hier
noch im unmittelbarsten Zusammenhang mit der physischen.
Die leibliche Fürsorge für das Kind und das so früh sich ent-
wickelnde Verständnis dieser Fürsorge in ihm selbst, in der
wortlosen Zwiesprache zwischen Mutter und Säugling, das
ist, wie Pestalozzi gesehen, das erste, grundlegende Bildungs-
element des Willens, wenn auch grundlegend nur im Sinne
der günstigen Bereitung des Bodens. Indem das zarte, so
ganz physische und doch so ganz seelische junge Menschlein
dies mit oft schon sehr bestimmtem und starkem Gefühl er-
greift und sich fest der mütterlichen, bald auch der väterlichen
und geschwisterlichen Sorge und Zärtlichkeit anschmiegt, tritt

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[245/0261] § 26. Materie der praktischen Uebung und Lehre. Erste Stufe: Hauserziehung. Auf Grund alles Vorausgeschickten versuchen wir nun auch in materialer Hinsicht zu zeigen, wie in konkreter Ge- meinschaft von Stufe zu Stufe der Mensch sich bildet zur Ge- meinschaft, zur Teilnahme an dem endlichen Prozess, in dem die Gemeinschaft der Menschen und mit ihr ein menschliches Leben sich gestaltet. Der untersten Stufe, der der Hauserziehung, gehört vor- zugsweise das Gebiet der dritten der individuellen Tugenden und die dieser entsprechende Seite der Tugend der Gemein- schaft zu. Es ist das Gebiet der „Reinheit“, oder der sitt- lichen Regelung des Trieblebens in Arbeit und Genuss, damit aber der ökonomischen Thätigkeit im früher bestimmten, um- fassenden Sinn. Die natürliche Stätte der Erziehung nach dieser Richtung ist das Haus, in dem allein auch die ent- sprechende Art der willenbildenden Thätigkeit sich rein in ihrer Eigenart entfalten kann. Es ist zwar eigentlich noch nicht Wille, was auf dieser Stufe entwickelt wird, sondern erst die rechte Disposition zur Willensbildung, die dafür geeignete Triebrichtung. Aber ge- rade dass hier der rechte Grund gelegt wird, ist von der grössten Wichtigkeit. Die seelische Entwicklung steht hier noch im unmittelbarsten Zusammenhang mit der physischen. Die leibliche Fürsorge für das Kind und das so früh sich ent- wickelnde Verständnis dieser Fürsorge in ihm selbst, in der wortlosen Zwiesprache zwischen Mutter und Säugling, das ist, wie Pestalozzi gesehen, das erste, grundlegende Bildungs- element des Willens, wenn auch grundlegend nur im Sinne der günstigen Bereitung des Bodens. Indem das zarte, so ganz physische und doch so ganz seelische junge Menschlein dies mit oft schon sehr bestimmtem und starkem Gefühl er- greift und sich fest der mütterlichen, bald auch der väterlichen und geschwisterlichen Sorge und Zärtlichkeit anschmiegt, tritt

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/261>, abgerufen am 29.03.2024.