Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

matik", die durchaus bewiesene, theoretische Wissenschaft
sein, zugleich aber alle bloss menschliche Wissenschaft
überragen und (wo sie es ganz ernst meint) unterjochen will.
Es giebt ebenso eine eigene, wiederum dem Anspruch nach die
höchste, alle andern überragende, religiöse Sittlichkeit,
die den Menschen in ein völlig neues, der bloss humanen Sitt-
lichkeit unbekanntes, gleichwohl sittliches, jedenfalls in den
Formen und gleichsam im Stile der Sittlichkeit gedachtes
Verhältnis setzen will, nämlich zu "Gott"; aus welchem Ver-
hältnis ferner auch ein neues sittliches Verhältnis unter den
Menschen, als Angehörigen der Gottesgemeinde, als Gottes-
kindern, sowie auch zu sich selbst, abgeleitet wird; und
wiederum soll die bloss humane Sittlichkeit sich dieser höheren
schlechterdings unterordnen, durch sie erst geheiligt werden.
Es giebt endlich auch eine eigentümliche, mit besonderem
Geltungsanspruch auftretende, in ihren Mitteln aber von der
bloss humanen gar nicht verschiedene, religiöse Weise der
Kunstgestaltung: die religiöse Symbolik. Eine weitere,
von diesen dreien verschiedene, etwa ganz eigene Weise des
objektivierenden Ausdrucks, eine andre Sprache der Religion
als diese giebt es meines Wissens nicht. Ich folgere: also
vertritt Religion nicht eine vierte, jenen dreien koordinierte
Gestaltungsweise bewussten Inhalts. An dieser ersten,
bloss negativen, ihrem Kern nach übrigens schon bei Schleier-
macher erreichten Feststellung dürfte nicht zu rütteln sein.

Nun aber will Religion keinesfalls restlos in diesen drei
Weisen objektivierender Gestaltung aufgehen. Sie behauptet
über einen Gehalt zu verfügen, der in keiner einzelnen von
ihnen, auch nicht in allen zusammen, sich erschöpfe. Wohl
spricht die Seele der Religion in ihnen, aber sie spricht sich
niemals aus; ja zuletzt gilt wohl von ihr das Wort: Spricht
die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr. Das
alles sind Aeusserungen, vielleicht die natürlichen und not-
wendigen Aeusserungen, aber es ist nicht Wurzel und Grund
der Religion. Sie möchte des Begriffs sogar entbehren oder
mit sehr unzulänglichen Begriffen sich behelfen -- sie darf es,
eben weil zuletzt auch der höchste menschliche Begriff ihr

matik“, die durchaus bewiesene, theoretische Wissenschaft
sein, zugleich aber alle bloss menschliche Wissenschaft
überragen und (wo sie es ganz ernst meint) unterjochen will.
Es giebt ebenso eine eigene, wiederum dem Anspruch nach die
höchste, alle andern überragende, religiöse Sittlichkeit,
die den Menschen in ein völlig neues, der bloss humanen Sitt-
lichkeit unbekanntes, gleichwohl sittliches, jedenfalls in den
Formen und gleichsam im Stile der Sittlichkeit gedachtes
Verhältnis setzen will, nämlich zu „Gott“; aus welchem Ver-
hältnis ferner auch ein neues sittliches Verhältnis unter den
Menschen, als Angehörigen der Gottesgemeinde, als Gottes-
kindern, sowie auch zu sich selbst, abgeleitet wird; und
wiederum soll die bloss humane Sittlichkeit sich dieser höheren
schlechterdings unterordnen, durch sie erst geheiligt werden.
Es giebt endlich auch eine eigentümliche, mit besonderem
Geltungsanspruch auftretende, in ihren Mitteln aber von der
bloss humanen gar nicht verschiedene, religiöse Weise der
Kunstgestaltung: die religiöse Symbolik. Eine weitere,
von diesen dreien verschiedene, etwa ganz eigene Weise des
objektivierenden Ausdrucks, eine andre Sprache der Religion
als diese giebt es meines Wissens nicht. Ich folgere: also
vertritt Religion nicht eine vierte, jenen dreien koordinierte
Gestaltungsweise bewussten Inhalts. An dieser ersten,
bloss negativen, ihrem Kern nach übrigens schon bei Schleier-
macher erreichten Feststellung dürfte nicht zu rütteln sein.

Nun aber will Religion keinesfalls restlos in diesen drei
Weisen objektivierender Gestaltung aufgehen. Sie behauptet
über einen Gehalt zu verfügen, der in keiner einzelnen von
ihnen, auch nicht in allen zusammen, sich erschöpfe. Wohl
spricht die Seele der Religion in ihnen, aber sie spricht sich
niemals aus; ja zuletzt gilt wohl von ihr das Wort: Spricht
die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr. Das
alles sind Aeusserungen, vielleicht die natürlichen und not-
wendigen Aeusserungen, aber es ist nicht Wurzel und Grund
der Religion. Sie möchte des Begriffs sogar entbehren oder
mit sehr unzulänglichen Begriffen sich behelfen — sie darf es,
eben weil zuletzt auch der höchste menschliche Begriff ihr

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0341" n="325"/>
matik&#x201C;, die durchaus bewiesene, theoretische Wissenschaft<lb/>
sein, zugleich aber alle <hi rendition="#g">bloss menschliche</hi> Wissenschaft<lb/>
überragen und (wo sie es ganz ernst meint) unterjochen will.<lb/>
Es giebt ebenso eine eigene, wiederum dem Anspruch nach die<lb/>
höchste, alle andern überragende, <hi rendition="#g">religiöse Sittlichkeit</hi>,<lb/>
die den Menschen in ein völlig neues, der bloss humanen Sitt-<lb/>
lichkeit unbekanntes, gleichwohl sittliches, jedenfalls in den<lb/>
Formen und gleichsam im Stile der Sittlichkeit gedachtes<lb/>
Verhältnis setzen will, nämlich zu &#x201E;Gott&#x201C;; aus welchem Ver-<lb/>
hältnis ferner auch ein neues sittliches Verhältnis unter den<lb/>
Menschen, als Angehörigen der Gottesgemeinde, als Gottes-<lb/>
kindern, sowie auch zu sich selbst, abgeleitet wird; und<lb/>
wiederum soll die bloss humane Sittlichkeit sich dieser höheren<lb/>
schlechterdings unterordnen, durch sie erst geheiligt werden.<lb/>
Es giebt endlich auch eine eigentümliche, mit besonderem<lb/>
Geltungsanspruch auftretende, in ihren Mitteln aber von der<lb/>
bloss humanen gar nicht verschiedene, religiöse Weise der<lb/>
Kunstgestaltung: die <hi rendition="#g">religiöse Symbolik</hi>. Eine weitere,<lb/>
von diesen dreien verschiedene, etwa ganz eigene Weise des<lb/>
objektivierenden Ausdrucks, eine andre <hi rendition="#g">Sprache</hi> der Religion<lb/>
als diese giebt es meines Wissens nicht. Ich folgere: also<lb/>
vertritt Religion nicht eine vierte, jenen dreien koordinierte<lb/><hi rendition="#g">Gestaltungsweise bewussten Inhalts</hi>. An dieser ersten,<lb/>
bloss negativen, ihrem Kern nach übrigens schon bei Schleier-<lb/>
macher erreichten Feststellung dürfte nicht zu rütteln sein.</p><lb/>
          <p>Nun aber will Religion keinesfalls restlos in diesen drei<lb/>
Weisen objektivierender Gestaltung aufgehen. Sie behauptet<lb/>
über einen <hi rendition="#g">Gehalt</hi> zu verfügen, der in keiner einzelnen von<lb/>
ihnen, auch nicht in allen zusammen, sich erschöpfe. Wohl<lb/>
spricht die Seele der Religion in ihnen, aber sie spricht sich<lb/>
niemals aus; ja zuletzt gilt wohl von ihr das Wort: <hi rendition="#g">Spricht</hi><lb/>
die Seele, so spricht, ach, schon die <hi rendition="#g">Seele</hi> nicht mehr. Das<lb/>
alles sind Aeusserungen, vielleicht die natürlichen und not-<lb/>
wendigen Aeusserungen, aber es ist nicht Wurzel und Grund<lb/>
der Religion. Sie möchte des Begriffs sogar entbehren oder<lb/>
mit sehr unzulänglichen Begriffen sich behelfen &#x2014; sie darf es,<lb/>
eben weil zuletzt auch der höchste <hi rendition="#g">menschliche</hi> Begriff ihr<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[325/0341] matik“, die durchaus bewiesene, theoretische Wissenschaft sein, zugleich aber alle bloss menschliche Wissenschaft überragen und (wo sie es ganz ernst meint) unterjochen will. Es giebt ebenso eine eigene, wiederum dem Anspruch nach die höchste, alle andern überragende, religiöse Sittlichkeit, die den Menschen in ein völlig neues, der bloss humanen Sitt- lichkeit unbekanntes, gleichwohl sittliches, jedenfalls in den Formen und gleichsam im Stile der Sittlichkeit gedachtes Verhältnis setzen will, nämlich zu „Gott“; aus welchem Ver- hältnis ferner auch ein neues sittliches Verhältnis unter den Menschen, als Angehörigen der Gottesgemeinde, als Gottes- kindern, sowie auch zu sich selbst, abgeleitet wird; und wiederum soll die bloss humane Sittlichkeit sich dieser höheren schlechterdings unterordnen, durch sie erst geheiligt werden. Es giebt endlich auch eine eigentümliche, mit besonderem Geltungsanspruch auftretende, in ihren Mitteln aber von der bloss humanen gar nicht verschiedene, religiöse Weise der Kunstgestaltung: die religiöse Symbolik. Eine weitere, von diesen dreien verschiedene, etwa ganz eigene Weise des objektivierenden Ausdrucks, eine andre Sprache der Religion als diese giebt es meines Wissens nicht. Ich folgere: also vertritt Religion nicht eine vierte, jenen dreien koordinierte Gestaltungsweise bewussten Inhalts. An dieser ersten, bloss negativen, ihrem Kern nach übrigens schon bei Schleier- macher erreichten Feststellung dürfte nicht zu rütteln sein. Nun aber will Religion keinesfalls restlos in diesen drei Weisen objektivierender Gestaltung aufgehen. Sie behauptet über einen Gehalt zu verfügen, der in keiner einzelnen von ihnen, auch nicht in allen zusammen, sich erschöpfe. Wohl spricht die Seele der Religion in ihnen, aber sie spricht sich niemals aus; ja zuletzt gilt wohl von ihr das Wort: Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr. Das alles sind Aeusserungen, vielleicht die natürlichen und not- wendigen Aeusserungen, aber es ist nicht Wurzel und Grund der Religion. Sie möchte des Begriffs sogar entbehren oder mit sehr unzulänglichen Begriffen sich behelfen — sie darf es, eben weil zuletzt auch der höchste menschliche Begriff ihr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/341
Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/341>, abgerufen am 25.04.2024.