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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Das also ist die erste Stufe der Aktivität, dem Range
nach die unterste, zugleich aber der notwendige Anfangspunkt
einer ins Unendliche emporsteigenden Entwicklungslinie: dass
das unmittelbar vor Sinnen schwebende Objekt unser Streben
ganz ein- oder gefangen nimmt, ausfüllt, sodass es nicht darüber
hinaussieht, sondern dadurch ganz festgehalten, "gefesselt",
mithin unfrei ist. Dieser Zustand ist noch nicht Wille
zu nennen, wenn doch Voraussetzung des Wollens Freiheit
der Wahl
ist. Auch der Name Begehren ist ungeeignet,
schon weil darunter herkömmlich der Wille, als das "obere
Begehrungsvermögen", mitbegriffen wird. Dagegen steht das
Wort Trieb zur Verfügung, welches sich deshalb besonders
eignet, weil dadurch die Willenlosigkeit, die diese Stufe der
Aktivität kennzeichnet, das passive Getriebenwerden und nur
dadurch selber Treiben, in steter Erinnerung gehalten wird.
Setzen wir der grösseren Deutlichkeit halber zu "Trieb" das
Beiwort "sinnlich", so wollen wir damit nicht ein Sonder-
gebiet des Trieblebens, etwa das dem Menschen mit dem Tier
gemeine, auf niedere Sinnenlust gerichtete, abgrenzen, sondern
nur jene unmittelbare Richtung auf das gegebene, also sinn-
liche Objekt, es sei übrigens was es sei, noch besonders aus-
drücken.

Der Charakter und die weitreichende Bedeutung des Triebs
wird besonders klar am Begriff der Arbeit. Keine mensch-
liche Arbeit, auch nicht die edelste geistige, lässt sich ver-
richten, ohne dass man sich für die Zeit der Arbeit dem Gegen-
stande ganz "hingiebt", d. h. ohne kraftvoll darauf gerichteten,
für diese Zeit im Objekt aufgehenden Trieb. Auch der Trieb
des Künstlers, seinen Gegenstand anschauend zu gestalten, ist
in der vollen Bedeutung des Wortes sinnlicher Trieb; und wie
nah verwandt ist dem selbst der Trieb des Forschers, seinen
Gegenstand erkennend darzustellen. Vergegenwärtigt man
sich vollends das psychische Verhalten des Jägers, des Er-
werbsmanns, jedes Arbeiters überhaupt, der, wie wir sagen,
mit ganzer Seele "bei der Sache" ist, was ist das anders als
energisches und zwar ganz und gar sinnliches Triebleben? Der
Trieb ist daher ob seiner Sinnlichkeit nicht zu schelten; er

Das also ist die erste Stufe der Aktivität, dem Range
nach die unterste, zugleich aber der notwendige Anfangspunkt
einer ins Unendliche emporsteigenden Entwicklungslinie: dass
das unmittelbar vor Sinnen schwebende Objekt unser Streben
ganz ein- oder gefangen nimmt, ausfüllt, sodass es nicht darüber
hinaussieht, sondern dadurch ganz festgehalten, „gefesselt“,
mithin unfrei ist. Dieser Zustand ist noch nicht Wille
zu nennen, wenn doch Voraussetzung des Wollens Freiheit
der Wahl
ist. Auch der Name Begehren ist ungeeignet,
schon weil darunter herkömmlich der Wille, als das „obere
Begehrungsvermögen“, mitbegriffen wird. Dagegen steht das
Wort Trieb zur Verfügung, welches sich deshalb besonders
eignet, weil dadurch die Willenlosigkeit, die diese Stufe der
Aktivität kennzeichnet, das passive Getriebenwerden und nur
dadurch selber Treiben, in steter Erinnerung gehalten wird.
Setzen wir der grösseren Deutlichkeit halber zu „Trieb“ das
Beiwort „sinnlich“, so wollen wir damit nicht ein Sonder-
gebiet des Trieblebens, etwa das dem Menschen mit dem Tier
gemeine, auf niedere Sinnenlust gerichtete, abgrenzen, sondern
nur jene unmittelbare Richtung auf das gegebene, also sinn-
liche Objekt, es sei übrigens was es sei, noch besonders aus-
drücken.

Der Charakter und die weitreichende Bedeutung des Triebs
wird besonders klar am Begriff der Arbeit. Keine mensch-
liche Arbeit, auch nicht die edelste geistige, lässt sich ver-
richten, ohne dass man sich für die Zeit der Arbeit dem Gegen-
stande ganz „hingiebt“, d. h. ohne kraftvoll darauf gerichteten,
für diese Zeit im Objekt aufgehenden Trieb. Auch der Trieb
des Künstlers, seinen Gegenstand anschauend zu gestalten, ist
in der vollen Bedeutung des Wortes sinnlicher Trieb; und wie
nah verwandt ist dem selbst der Trieb des Forschers, seinen
Gegenstand erkennend darzustellen. Vergegenwärtigt man
sich vollends das psychische Verhalten des Jägers, des Er-
werbsmanns, jedes Arbeiters überhaupt, der, wie wir sagen,
mit ganzer Seele „bei der Sache“ ist, was ist das anders als
energisches und zwar ganz und gar sinnliches Triebleben? Der
Trieb ist daher ob seiner Sinnlichkeit nicht zu schelten; er

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[56/0072] Das also ist die erste Stufe der Aktivität, dem Range nach die unterste, zugleich aber der notwendige Anfangspunkt einer ins Unendliche emporsteigenden Entwicklungslinie: dass das unmittelbar vor Sinnen schwebende Objekt unser Streben ganz ein- oder gefangen nimmt, ausfüllt, sodass es nicht darüber hinaussieht, sondern dadurch ganz festgehalten, „gefesselt“, mithin unfrei ist. Dieser Zustand ist noch nicht Wille zu nennen, wenn doch Voraussetzung des Wollens Freiheit der Wahl ist. Auch der Name Begehren ist ungeeignet, schon weil darunter herkömmlich der Wille, als das „obere Begehrungsvermögen“, mitbegriffen wird. Dagegen steht das Wort Trieb zur Verfügung, welches sich deshalb besonders eignet, weil dadurch die Willenlosigkeit, die diese Stufe der Aktivität kennzeichnet, das passive Getriebenwerden und nur dadurch selber Treiben, in steter Erinnerung gehalten wird. Setzen wir der grösseren Deutlichkeit halber zu „Trieb“ das Beiwort „sinnlich“, so wollen wir damit nicht ein Sonder- gebiet des Trieblebens, etwa das dem Menschen mit dem Tier gemeine, auf niedere Sinnenlust gerichtete, abgrenzen, sondern nur jene unmittelbare Richtung auf das gegebene, also sinn- liche Objekt, es sei übrigens was es sei, noch besonders aus- drücken. Der Charakter und die weitreichende Bedeutung des Triebs wird besonders klar am Begriff der Arbeit. Keine mensch- liche Arbeit, auch nicht die edelste geistige, lässt sich ver- richten, ohne dass man sich für die Zeit der Arbeit dem Gegen- stande ganz „hingiebt“, d. h. ohne kraftvoll darauf gerichteten, für diese Zeit im Objekt aufgehenden Trieb. Auch der Trieb des Künstlers, seinen Gegenstand anschauend zu gestalten, ist in der vollen Bedeutung des Wortes sinnlicher Trieb; und wie nah verwandt ist dem selbst der Trieb des Forschers, seinen Gegenstand erkennend darzustellen. Vergegenwärtigt man sich vollends das psychische Verhalten des Jägers, des Er- werbsmanns, jedes Arbeiters überhaupt, der, wie wir sagen, mit ganzer Seele „bei der Sache“ ist, was ist das anders als energisches und zwar ganz und gar sinnliches Triebleben? Der Trieb ist daher ob seiner Sinnlichkeit nicht zu schelten; er

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/72>, abgerufen am 19.04.2024.