Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite

Ueber die klassische Philologie giebt es in unseren Tagen keine einheitliche und deutlich erkennbare öffentliche Meinung. Dies empfindet man in den Kreisen der Gebildeten überhaupt ebenso als mitten unter den Jüngern jener Wissenschaft selbst. Die Ursache liegt in dem vielspältigen Charakter derselben, in dem Mangel einer begrifflichen Einheit, in dem unorganischen Aggregatzustande verschiedenartiger wissenschaftlicher Thätigkeiten, die nur durch den Namen "Philologie" zusammengebunden sind. Man muss nämlich ehrlich bekennen, dass die Philologie aus mehreren Wissenschaften gewissermassen geborgt und wie ein Zaubertrank aus den fremdartigsten Säften, Metallen und Knochen zusammen gebraut ist, ja dass sie ausserdem noch ein künstlerisches und auf aesthetischem und ethischem Boden imperativisches Element in sich birgt, das zu ihrem rein wissenschaftlichen Gebahren in bedenklichem Widerstreite steht. Sie ist ebenso wohl ein Stück Geschichte als ein Stück Naturwissenschaft als ein Stück Aesthetik: Geschichte, insofern sie die Kundgebungen bestimmter Volksindividualitäten in immer neuen Bildern, das waltende Gesetz in der Flucht der Erscheinungen begreifen will: Naturwissenschaft, so weit sie den tiefsten Instinkt des Menschen, den Sprachinstinkt zu ergründen trachtet: Aesthetik endlich, weil sie aus der Reihe von Alterthümern heraus das sogenannte "klassische" Alterthum aufstellt, mit dem Anspruche und der Absicht, eine verschüttete

Ueber die klassische Philologie giebt es in unseren Tagen keine einheitliche und deutlich erkennbare öffentliche Meinung. Dies empfindet man in den Kreisen der Gebildeten überhaupt ebenso als mitten unter den Jüngern jener Wissenschaft selbst. Die Ursache liegt in dem vielspältigen Charakter derselben, in dem Mangel einer begrifflichen Einheit, in dem unorganischen Aggregatzustande verschiedenartiger wissenschaftlicher Thätigkeiten, die nur durch den Namen »Philologie« zusammengebunden sind. Man muss nämlich ehrlich bekennen, dass die Philologie aus mehreren Wissenschaften gewissermassen geborgt und wie ein Zaubertrank aus den fremdartigsten Säften, Metallen und Knochen zusammen gebraut ist, ja dass sie ausserdem noch ein künstlerisches und auf aesthetischem und ethischem Boden imperativisches Element in sich birgt, das zu ihrem rein wissenschaftlichen Gebahren in bedenklichem Widerstreite steht. Sie ist ebenso wohl ein Stück Geschichte als ein Stück Naturwissenschaft als ein Stück Aesthetik: Geschichte, insofern sie die Kundgebungen bestimmter Volksindividualitäten in immer neuen Bildern, das waltende Gesetz in der Flucht der Erscheinungen begreifen will: Naturwissenschaft, so weit sie den tiefsten Instinkt des Menschen, den Sprachinstinkt zu ergründen trachtet: Aesthetik endlich, weil sie aus der Reihe von Alterthümern heraus das sogenannte »klassische« Alterthum aufstellt, mit dem Anspruche und der Absicht, eine verschüttete

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0003" n="[5]"/>
        <p>Ueber die klassische Philologie giebt es in unseren Tagen keine einheitliche und deutlich erkennbare öffentliche Meinung. Dies empfindet man in den Kreisen der Gebildeten überhaupt ebenso als mitten unter den Jüngern jener Wissenschaft selbst. Die Ursache liegt in dem vielspältigen Charakter derselben, in dem Mangel einer begrifflichen Einheit, in dem unorganischen Aggregatzustande verschiedenartiger wissenschaftlicher Thätigkeiten, die nur durch den Namen »Philologie« zusammengebunden sind. Man muss nämlich ehrlich bekennen, dass die Philologie aus mehreren Wissenschaften gewissermassen geborgt und wie ein Zaubertrank aus den fremdartigsten Säften, Metallen und Knochen zusammen gebraut ist, ja dass sie ausserdem noch ein künstlerisches und auf aesthetischem und ethischem Boden imperativisches Element in sich birgt, das zu ihrem rein wissenschaftlichen Gebahren in bedenklichem Widerstreite steht. Sie ist ebenso wohl ein Stück Geschichte als ein Stück Naturwissenschaft als ein Stück Aesthetik: Geschichte, insofern sie die Kundgebungen bestimmter Volksindividualitäten in immer neuen Bildern, das waltende Gesetz in der Flucht der Erscheinungen begreifen will: Naturwissenschaft, so weit sie den tiefsten Instinkt des Menschen, den Sprachinstinkt zu ergründen trachtet: Aesthetik endlich, weil sie aus der Reihe von Alterthümern heraus das sogenannte »klassische« Alterthum aufstellt, mit dem Anspruche und der Absicht, eine verschüttete
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[5]/0003] Ueber die klassische Philologie giebt es in unseren Tagen keine einheitliche und deutlich erkennbare öffentliche Meinung. Dies empfindet man in den Kreisen der Gebildeten überhaupt ebenso als mitten unter den Jüngern jener Wissenschaft selbst. Die Ursache liegt in dem vielspältigen Charakter derselben, in dem Mangel einer begrifflichen Einheit, in dem unorganischen Aggregatzustande verschiedenartiger wissenschaftlicher Thätigkeiten, die nur durch den Namen »Philologie« zusammengebunden sind. Man muss nämlich ehrlich bekennen, dass die Philologie aus mehreren Wissenschaften gewissermassen geborgt und wie ein Zaubertrank aus den fremdartigsten Säften, Metallen und Knochen zusammen gebraut ist, ja dass sie ausserdem noch ein künstlerisches und auf aesthetischem und ethischem Boden imperativisches Element in sich birgt, das zu ihrem rein wissenschaftlichen Gebahren in bedenklichem Widerstreite steht. Sie ist ebenso wohl ein Stück Geschichte als ein Stück Naturwissenschaft als ein Stück Aesthetik: Geschichte, insofern sie die Kundgebungen bestimmter Volksindividualitäten in immer neuen Bildern, das waltende Gesetz in der Flucht der Erscheinungen begreifen will: Naturwissenschaft, so weit sie den tiefsten Instinkt des Menschen, den Sprachinstinkt zu ergründen trachtet: Aesthetik endlich, weil sie aus der Reihe von Alterthümern heraus das sogenannte »klassische« Alterthum aufstellt, mit dem Anspruche und der Absicht, eine verschüttete

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2013-01-09T13:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-01-09T13:54:31Z)
Frederike Neuber: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-01-09T13:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/3
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869, S. [5]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/3>, abgerufen am 29.03.2024.