Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite
I.

Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen
haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern
zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind,
dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des
Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher
Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter,
bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender
Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den
Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunst¬
anschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich
deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen ver¬
nehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo
und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der
griechischen Kunst ein Stilgegensatz besteht; zwei verschiedene
Triebe gehen in ihr neben einander her, zumeist im Zwiespalt
mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren
Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes
zu perpetuiren: bis sie endlich, im Blüthemoment des helle¬
nischen "Willens", zu gemeinsamer Erzeugung des Kunst¬
werkes der attischen Tragödie verschmolzen erscheinen.

Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken
wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des
Traumes und des Rausches; zwischen welchen physiologischen
Erscheinungen ein analoger Gegensatz, wie zwischen dem
Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist. Im

Nietzsche, Geburt der Tragödie. 1
I.

Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen
haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern
zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind,
dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des
Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher
Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter,
bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender
Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den
Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunst¬
anschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich
deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen ver¬
nehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo
und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der
griechischen Kunst ein Stilgegensatz besteht; zwei verschiedene
Triebe gehen in ihr neben einander her, zumeist im Zwiespalt
mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren
Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes
zu perpetuiren: bis sie endlich, im Blüthemoment des helle¬
nischen »Willens«, zu gemeinsamer Erzeugung des Kunst¬
werkes der attischen Tragödie verschmolzen erscheinen.

Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken
wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des
Traumes und des Rausches; zwischen welchen physiologischen
Erscheinungen ein analoger Gegensatz, wie zwischen dem
Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist. Im

Nietzsche, Geburt der Tragödie. 1
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0014" n="[1]"/>
      <div n="1">
        <head>I.<lb/></head>
        <p><hi rendition="#in">W</hi>ir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen<lb/>
haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern<lb/>
zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind,<lb/>
dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des<lb/><hi rendition="#i">Apollinischen</hi> und des <hi rendition="#i">Dionysischen</hi> gebunden ist: in ähnlicher<lb/>
Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter,<lb/>
bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender<lb/>
Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den<lb/>
Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunst¬<lb/>
anschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich<lb/>
deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen ver¬<lb/>
nehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo<lb/>
und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der<lb/>
griechischen Kunst ein Stilgegensatz besteht; zwei verschiedene<lb/>
Triebe gehen in ihr neben einander her, zumeist im Zwiespalt<lb/>
mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren<lb/>
Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes<lb/>
zu perpetuiren: bis sie endlich, im Blüthemoment des helle¬<lb/>
nischen »Willens«, zu gemeinsamer Erzeugung des Kunst¬<lb/>
werkes der attischen Tragödie verschmolzen erscheinen.</p><lb/>
        <p>Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken<lb/>
wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des<lb/><hi rendition="#i">Traumes</hi> und des <hi rendition="#i">Rausches;</hi> zwischen welchen physiologischen<lb/>
Erscheinungen ein analoger Gegensatz, wie zwischen dem<lb/>
Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist. Im<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Nietzsche</hi>, Geburt der Tragödie. 1<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[1]/0014] I. Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunst¬ anschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen ver¬ nehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der griechischen Kunst ein Stilgegensatz besteht; zwei verschiedene Triebe gehen in ihr neben einander her, zumeist im Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren: bis sie endlich, im Blüthemoment des helle¬ nischen »Willens«, zu gemeinsamer Erzeugung des Kunst¬ werkes der attischen Tragödie verschmolzen erscheinen. Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches; zwischen welchen physiologischen Erscheinungen ein analoger Gegensatz, wie zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist. Im Nietzsche, Geburt der Tragödie. 1

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/14
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/14>, abgerufen am 29.03.2024.