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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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lösung im Scheine feiert. Denn dies muss uns vor allem,
zu unserer Erniedrigung und Erhöhung, deutlich sein, dass
die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer
Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja dass wir
ebensowenig die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind:
wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, dass wir für
den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und künstlerische
Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken
unsre höchste Würde haben -- denn nur als aesthetisches
Phänomen
ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: --
während freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung
kaum ein andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger
von der auf ihr dargestellten Schlacht haben. Somit ist
unser ganzes Kunstwissen im Grunde ein völlig illusorisches,
weil wir als Wissende mit jenem Wesen nicht eins und iden¬
tisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und Zuschauer
jener Kunstkomödie einen ewigen Genuss bereitet. Nur so¬
weit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit
jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über
das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ist er,
wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Mährchens
gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann;
jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter,
Acteur und Zuschauer.

6.

Von Archilochus sagt uns die griechische Geschichte,
dass er das Volkslied in die Litteratur eingeführt habe, und
dass ihm, dieser That halber, jene einzige Stellung neben
Homer, zukomme. Was aber ist das Volkslied im Gegen¬
satz zu dem völlig apollinischen Epos? Was anders als das
perpetuum vestigium einer Vereinigung des Apollinischen und

lösung im Scheine feiert. Denn dies muss uns vor allem,
zu unserer Erniedrigung und Erhöhung, deutlich sein, dass
die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer
Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja dass wir
ebensowenig die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind:
wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, dass wir für
den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und künstlerische
Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken
unsre höchste Würde haben — denn nur als aesthetisches
Phänomen
ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: —
während freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung
kaum ein andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger
von der auf ihr dargestellten Schlacht haben. Somit ist
unser ganzes Kunstwissen im Grunde ein völlig illusorisches,
weil wir als Wissende mit jenem Wesen nicht eins und iden¬
tisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und Zuschauer
jener Kunstkomödie einen ewigen Genuss bereitet. Nur so¬
weit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit
jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über
das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ist er,
wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Mährchens
gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann;
jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter,
Acteur und Zuschauer.

6.

Von Archilochus sagt uns die griechische Geschichte,
dass er das Volkslied in die Litteratur eingeführt habe, und
dass ihm, dieser That halber, jene einzige Stellung neben
Homer, zukomme. Was aber ist das Volkslied im Gegen¬
satz zu dem völlig apollinischen Epos? Was anders als das
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[—25—/0038] lösung im Scheine feiert. Denn dies muss uns vor allem, zu unserer Erniedrigung und Erhöhung, deutlich sein, dass die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja dass wir ebensowenig die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind: wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsre höchste Würde haben — denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: — während freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung kaum ein andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben. Somit ist unser ganzes Kunstwissen im Grunde ein völlig illusorisches, weil wir als Wissende mit jenem Wesen nicht eins und iden¬ tisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie einen ewigen Genuss bereitet. Nur so¬ weit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Mährchens gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Acteur und Zuschauer. 6. Von Archilochus sagt uns die griechische Geschichte, dass er das Volkslied in die Litteratur eingeführt habe, und dass ihm, dieser That halber, jene einzige Stellung neben Homer, zukomme. Was aber ist das Volkslied im Gegen¬ satz zu dem völlig apollinischen Epos? Was anders als das perpetuum vestigium einer Vereinigung des Apollinischen und

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —25—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/38>, abgerufen am 29.03.2024.