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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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der sich wie der Affe des Herakles mit dem alten Prunke
nur noch aufzuputzen wusste. Und wie dir der Mythus
starb, so starb dir auch der Genius der Musik: mochtest du
auch mit gierigem Zugreifen alle Gärten der Musik plündern,
auch so brachtest du es nur zu einer nachgemachten mas¬
kirten Musik. Und weil du Dionysus verlassen, so verliess
dich auch Apollo; jage alle Leidenschaften von ihrem Lager
auf und banne sie in deinen Kreis, spitze und feile dir für
die Reden deiner Helden eine sophistische Dialektik zurecht
-- auch deine Helden haben nur nachgeahmte maskirte
Leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskirte
Reden.

11.

Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen
als sämmtliche ältere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb
durch Selbstmord, in Folge eines unlösbaren Conflictes, also
tragisch, während jene alle in hohem Alter des schönsten
und ruhigsten Todes verblichen sind. Wenn es nämlich
einem glücklichen Naturzustande gemäss ist, mit schöner
Nachkommenschaft und ohne Krampf vom Leben zu scheiden,
so zeigt uns das Ende jener älteren Kunstgattungen einen
solchen glücklichen Naturzustand: sie tauchen langsam unter,
und vor ihren ersterbenden Blicken steht schon ihr schönerer
Nachwuchs und reckt mit muthiger Gebärde ungeduldig das
Haupt. Mit dem Tode der griechischen Tragödie dagegen
entstand eine ungeheure, überall tief empfundene Leere;
wie einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an
einem einsamen Eiland den erschütternden Schrei hörten
"der grosse Pan ist todt": so klang es jetzt wie ein schmerz¬
licher Klageton durch die hellenische Welt: "die Tragödie
ist todt! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren gegangen!

der sich wie der Affe des Herakles mit dem alten Prunke
nur noch aufzuputzen wusste. Und wie dir der Mythus
starb, so starb dir auch der Genius der Musik: mochtest du
auch mit gierigem Zugreifen alle Gärten der Musik plündern,
auch so brachtest du es nur zu einer nachgemachten mas¬
kirten Musik. Und weil du Dionysus verlassen, so verliess
dich auch Apollo; jage alle Leidenschaften von ihrem Lager
auf und banne sie in deinen Kreis, spitze und feile dir für
die Reden deiner Helden eine sophistische Dialektik zurecht
— auch deine Helden haben nur nachgeahmte maskirte
Leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskirte
Reden.

11.

Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen
als sämmtliche ältere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb
durch Selbstmord, in Folge eines unlösbaren Conflictes, also
tragisch, während jene alle in hohem Alter des schönsten
und ruhigsten Todes verblichen sind. Wenn es nämlich
einem glücklichen Naturzustande gemäss ist, mit schöner
Nachkommenschaft und ohne Krampf vom Leben zu scheiden,
so zeigt uns das Ende jener älteren Kunstgattungen einen
solchen glücklichen Naturzustand: sie tauchen langsam unter,
und vor ihren ersterbenden Blicken steht schon ihr schönerer
Nachwuchs und reckt mit muthiger Gebärde ungeduldig das
Haupt. Mit dem Tode der griechischen Tragödie dagegen
entstand eine ungeheure, überall tief empfundene Leere;
wie einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an
einem einsamen Eiland den erschütternden Schrei hörten
»der grosse Pan ist todt«: so klang es jetzt wie ein schmerz¬
licher Klageton durch die hellenische Welt: »die Tragödie
ist todt! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren gegangen!

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[—55—/0068] der sich wie der Affe des Herakles mit dem alten Prunke nur noch aufzuputzen wusste. Und wie dir der Mythus starb, so starb dir auch der Genius der Musik: mochtest du auch mit gierigem Zugreifen alle Gärten der Musik plündern, auch so brachtest du es nur zu einer nachgemachten mas¬ kirten Musik. Und weil du Dionysus verlassen, so verliess dich auch Apollo; jage alle Leidenschaften von ihrem Lager auf und banne sie in deinen Kreis, spitze und feile dir für die Reden deiner Helden eine sophistische Dialektik zurecht — auch deine Helden haben nur nachgeahmte maskirte Leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskirte Reden. 11. Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen als sämmtliche ältere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb durch Selbstmord, in Folge eines unlösbaren Conflictes, also tragisch, während jene alle in hohem Alter des schönsten und ruhigsten Todes verblichen sind. Wenn es nämlich einem glücklichen Naturzustande gemäss ist, mit schöner Nachkommenschaft und ohne Krampf vom Leben zu scheiden, so zeigt uns das Ende jener älteren Kunstgattungen einen solchen glücklichen Naturzustand: sie tauchen langsam unter, und vor ihren ersterbenden Blicken steht schon ihr schönerer Nachwuchs und reckt mit muthiger Gebärde ungeduldig das Haupt. Mit dem Tode der griechischen Tragödie dagegen entstand eine ungeheure, überall tief empfundene Leere; wie einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem einsamen Eiland den erschütternden Schrei hörten »der grosse Pan ist todt«: so klang es jetzt wie ein schmerz¬ licher Klageton durch die hellenische Welt: »die Tragödie ist todt! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren gegangen!

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —55—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/68>, abgerufen am 28.03.2024.