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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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sam als die Wiedergeburt aller wahren Musik, empfangen
und gehegt werden konnte, aus der sich soeben die unaus¬
sprechbar erhabene und heilige Musik Palestrina's erhoben
hatte? Und wer möchte andrerseits nur die zerstreuungssüchtige
Üppigkeit jener Florentiner Kreise und die Eitelkeit ihrer
dramatischen Sänger für die so ungestüm sich verbreitende
Lust an der Oper verantwortlich machen? Dass in derselben
Zeit, ja in demselben Volke neben dem Gewölbebau Pale¬
strinischer Harmonien, an dem das gesammte christliche
Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft für eine halbmusi¬
kalische Sprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer
im Wesen des Recitativs mitwirkenden ausserkünstlerischen
Tendenz
zu erklären.

Dem Zuhörer, der das Wort unter dem Gesange deutlich
vernehmen will, entspricht der Sänger dadurch, dass er mehr
spricht als singt und dass er den pathetischen Wortausdruck
in diesem Halbgesange verschärft: durch diese Verschärfung
des Pathos erleichtert er das Verständniss des Wortes und
überwindet jene übrig gebliebene Hälfte der Musik. Die eigent¬
liche Gefahr, die ihm jetzt droht, ist die, dass er der Musik
einmal zur Unzeit das Übergewicht ertheilt, wodurch sofort
Pathos der Rede und Deutlichkeit des Wortes zu Grunde
gehen müsste: während er andrerseits immer den Trieb zu
musikalischer Entladung und zu virtuosenhafter Präsentation
seiner Stimme fühlt. Hier kommt ihm der "Dichter" zu
Hülfe, der ihm genug Gelegenheiten zu lyrischen Interjec¬
tionen, Wort- und Sentenzenwiederholungen u. s. w. zu
bieten weiss: an welchen Stellen der Sänger jetzt in dem
rein musikalischen Elemente, ohne Rücksicht auf das Wort,
ausruhen kann. Dieser Wechsel affectvoll eindringlicher, doch
nur halb gesungener Rede und ganz gesungener Interjection,
der im Wesen des stilo rappresentativo liegt, dies rasch wech¬
selnde Bemühen, bald auf den Begriff und die Vorstellung,

sam als die Wiedergeburt aller wahren Musik, empfangen
und gehegt werden konnte, aus der sich soeben die unaus¬
sprechbar erhabene und heilige Musik Palestrina's erhoben
hatte? Und wer möchte andrerseits nur die zerstreuungssüchtige
Üppigkeit jener Florentiner Kreise und die Eitelkeit ihrer
dramatischen Sänger für die so ungestüm sich verbreitende
Lust an der Oper verantwortlich machen? Dass in derselben
Zeit, ja in demselben Volke neben dem Gewölbebau Pale¬
strinischer Harmonien, an dem das gesammte christliche
Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft für eine halbmusi¬
kalische Sprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer
im Wesen des Recitativs mitwirkenden ausserkünstlerischen
Tendenz
zu erklären.

Dem Zuhörer, der das Wort unter dem Gesange deutlich
vernehmen will, entspricht der Sänger dadurch, dass er mehr
spricht als singt und dass er den pathetischen Wortausdruck
in diesem Halbgesange verschärft: durch diese Verschärfung
des Pathos erleichtert er das Verständniss des Wortes und
überwindet jene übrig gebliebene Hälfte der Musik. Die eigent¬
liche Gefahr, die ihm jetzt droht, ist die, dass er der Musik
einmal zur Unzeit das Übergewicht ertheilt, wodurch sofort
Pathos der Rede und Deutlichkeit des Wortes zu Grunde
gehen müsste: während er andrerseits immer den Trieb zu
musikalischer Entladung und zu virtuosenhafter Präsentation
seiner Stimme fühlt. Hier kommt ihm der »Dichter« zu
Hülfe, der ihm genug Gelegenheiten zu lyrischen Interjec¬
tionen, Wort- und Sentenzenwiederholungen u. s. w. zu
bieten weiss: an welchen Stellen der Sänger jetzt in dem
rein musikalischen Elemente, ohne Rücksicht auf das Wort,
ausruhen kann. Dieser Wechsel affectvoll eindringlicher, doch
nur halb gesungener Rede und ganz gesungener Interjection,
der im Wesen des stilo rappresentativo liegt, dies rasch wech¬
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[—105—/0118] sam als die Wiedergeburt aller wahren Musik, empfangen und gehegt werden konnte, aus der sich soeben die unaus¬ sprechbar erhabene und heilige Musik Palestrina's erhoben hatte? Und wer möchte andrerseits nur die zerstreuungssüchtige Üppigkeit jener Florentiner Kreise und die Eitelkeit ihrer dramatischen Sänger für die so ungestüm sich verbreitende Lust an der Oper verantwortlich machen? Dass in derselben Zeit, ja in demselben Volke neben dem Gewölbebau Pale¬ strinischer Harmonien, an dem das gesammte christliche Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft für eine halbmusi¬ kalische Sprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer im Wesen des Recitativs mitwirkenden ausserkünstlerischen Tendenz zu erklären. Dem Zuhörer, der das Wort unter dem Gesange deutlich vernehmen will, entspricht der Sänger dadurch, dass er mehr spricht als singt und dass er den pathetischen Wortausdruck in diesem Halbgesange verschärft: durch diese Verschärfung des Pathos erleichtert er das Verständniss des Wortes und überwindet jene übrig gebliebene Hälfte der Musik. Die eigent¬ liche Gefahr, die ihm jetzt droht, ist die, dass er der Musik einmal zur Unzeit das Übergewicht ertheilt, wodurch sofort Pathos der Rede und Deutlichkeit des Wortes zu Grunde gehen müsste: während er andrerseits immer den Trieb zu musikalischer Entladung und zu virtuosenhafter Präsentation seiner Stimme fühlt. Hier kommt ihm der »Dichter« zu Hülfe, der ihm genug Gelegenheiten zu lyrischen Interjec¬ tionen, Wort- und Sentenzenwiederholungen u. s. w. zu bieten weiss: an welchen Stellen der Sänger jetzt in dem rein musikalischen Elemente, ohne Rücksicht auf das Wort, ausruhen kann. Dieser Wechsel affectvoll eindringlicher, doch nur halb gesungener Rede und ganz gesungener Interjection, der im Wesen des stilo rappresentativo liegt, dies rasch wech¬ selnde Bemühen, bald auf den Begriff und die Vorstellung,

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —105—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/118>, abgerufen am 23.04.2024.