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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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nach solchen Vorgängern, auf diesem Bildungswege noch
weiter als jene und überhaupt zum Ziele kommen würden.
Deshalb sehen wir seit jener Zeit das Urtheil über den
Bildungswerth der Griechen in der bedenklichsten Weise
entarten; der Ausdruck mitleidiger Ueberlegenheit ist in den
verschiedensten Feldlagern des Geistes und des Ungeistes zu
hören; anderwärts tändelt eine gänzlich wirkungslose Schön¬
rednerei mit der "griechischen Harmonie", der "griechischen
Schönheit", der "griechischen Heiterkeit". Und gerade in
den Kreisen, deren Würde es sein könnte, aus dem grie¬
chischen Strombett unermüdet, zum Heile deutscher Bildung,
zu schöpfen, in den Kreisen der Lehrer an den höheren
Bildungsanstalten hat man am besten gelernt, sich mit den
Griechen zeitig und in bequemer Weise abzufinden, nicht
selten bis zu einem sceptischen Preisgeben des hellenischen
Ideals und bis zu einer gänzlichen Verkehrung der wahren
Tendenz aller Alterthumsstudien. Wer überhaupt in jenen
Kreisen sich nicht völlig in dem Bemühen, ein zuverlässiger
Corrector von alten Texten oder ein naturhistorischer Sprach¬
mikroskopiker zu sein, erschöpft hat, der sucht vielleicht auch
das griechische Alterthum, neben anderen Alterthümern, sich
"historisch" anzueignen, aber jedenfalls nach der Methode
und mit der Ueberlegenheitsmiene unserer jetzigen ge¬
bildeten Geschichtschreibung. Wenn demnach die eigent¬
liche Bildungskraft der höheren Lehranstalten wohl noch
niemals niedriger und schwächlicher gewesen ist, wie in der
Gegenwart, wenn der "Journalist", der papierne Sclave des
Tages, in jeder Bildungsrücksicht den Sieg über den höheren
Lehrer davongetragen hat, und Letzterem nur noch die be¬
reits oft erlebte Metamorphose übrig bleibt, sich jetzt nun
auch in der Sprechweise des Journalisten, mit der "leichten
Eleganz" dieser Sphäre, als heiterer gebildeter Schmetterling
zu bewegen -- in welcher peinlichen Verwirrung müssen die

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nach solchen Vorgängern, auf diesem Bildungswege noch
weiter als jene und überhaupt zum Ziele kommen würden.
Deshalb sehen wir seit jener Zeit das Urtheil über den
Bildungswerth der Griechen in der bedenklichsten Weise
entarten; der Ausdruck mitleidiger Ueberlegenheit ist in den
verschiedensten Feldlagern des Geistes und des Ungeistes zu
hören; anderwärts tändelt eine gänzlich wirkungslose Schön¬
rednerei mit der »griechischen Harmonie«, der »griechischen
Schönheit«, der »griechischen Heiterkeit«. Und gerade in
den Kreisen, deren Würde es sein könnte, aus dem grie¬
chischen Strombett unermüdet, zum Heile deutscher Bildung,
zu schöpfen, in den Kreisen der Lehrer an den höheren
Bildungsanstalten hat man am besten gelernt, sich mit den
Griechen zeitig und in bequemer Weise abzufinden, nicht
selten bis zu einem sceptischen Preisgeben des hellenischen
Ideals und bis zu einer gänzlichen Verkehrung der wahren
Tendenz aller Alterthumsstudien. Wer überhaupt in jenen
Kreisen sich nicht völlig in dem Bemühen, ein zuverlässiger
Corrector von alten Texten oder ein naturhistorischer Sprach¬
mikroskopiker zu sein, erschöpft hat, der sucht vielleicht auch
das griechische Alterthum, neben anderen Alterthümern, sich
»historisch« anzueignen, aber jedenfalls nach der Methode
und mit der Ueberlegenheitsmiene unserer jetzigen ge¬
bildeten Geschichtschreibung. Wenn demnach die eigent¬
liche Bildungskraft der höheren Lehranstalten wohl noch
niemals niedriger und schwächlicher gewesen ist, wie in der
Gegenwart, wenn der »Journalist«, der papierne Sclave des
Tages, in jeder Bildungsrücksicht den Sieg über den höheren
Lehrer davongetragen hat, und Letzterem nur noch die be¬
reits oft erlebte Metamorphose übrig bleibt, sich jetzt nun
auch in der Sprechweise des Journalisten, mit der »leichten
Eleganz« dieser Sphäre, als heiterer gebildeter Schmetterling
zu bewegen — in welcher peinlichen Verwirrung müssen die

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[—115—/0128] nach solchen Vorgängern, auf diesem Bildungswege noch weiter als jene und überhaupt zum Ziele kommen würden. Deshalb sehen wir seit jener Zeit das Urtheil über den Bildungswerth der Griechen in der bedenklichsten Weise entarten; der Ausdruck mitleidiger Ueberlegenheit ist in den verschiedensten Feldlagern des Geistes und des Ungeistes zu hören; anderwärts tändelt eine gänzlich wirkungslose Schön¬ rednerei mit der »griechischen Harmonie«, der »griechischen Schönheit«, der »griechischen Heiterkeit«. Und gerade in den Kreisen, deren Würde es sein könnte, aus dem grie¬ chischen Strombett unermüdet, zum Heile deutscher Bildung, zu schöpfen, in den Kreisen der Lehrer an den höheren Bildungsanstalten hat man am besten gelernt, sich mit den Griechen zeitig und in bequemer Weise abzufinden, nicht selten bis zu einem sceptischen Preisgeben des hellenischen Ideals und bis zu einer gänzlichen Verkehrung der wahren Tendenz aller Alterthumsstudien. Wer überhaupt in jenen Kreisen sich nicht völlig in dem Bemühen, ein zuverlässiger Corrector von alten Texten oder ein naturhistorischer Sprach¬ mikroskopiker zu sein, erschöpft hat, der sucht vielleicht auch das griechische Alterthum, neben anderen Alterthümern, sich »historisch« anzueignen, aber jedenfalls nach der Methode und mit der Ueberlegenheitsmiene unserer jetzigen ge¬ bildeten Geschichtschreibung. Wenn demnach die eigent¬ liche Bildungskraft der höheren Lehranstalten wohl noch niemals niedriger und schwächlicher gewesen ist, wie in der Gegenwart, wenn der »Journalist«, der papierne Sclave des Tages, in jeder Bildungsrücksicht den Sieg über den höheren Lehrer davongetragen hat, und Letzterem nur noch die be¬ reits oft erlebte Metamorphose übrig bleibt, sich jetzt nun auch in der Sprechweise des Journalisten, mit der »leichten Eleganz« dieser Sphäre, als heiterer gebildeter Schmetterling zu bewegen — in welcher peinlichen Verwirrung müssen die 8*

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —115—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/128>, abgerufen am 28.03.2024.