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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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derartig Gebildeten einer solchen Gegenwart jenes Phänomen
anstarren, das nur etwa aus dem tiefsten Grunde des bisher
unbegriffnen hellenischen Genius analogisch zu begreifen wäre,
das Wiedererwachen des dionysischen Geistes und die Wieder¬
geburt der Tragödie? Es giebt keine andere Kunstperiode,
in der sich die sogenannte Bildung und die eigentliche Kunst
so befremdet und abgeneigt gegenübergestanden hätten, als
wir das in der Gegenwart mit Augen sehn. Wir verstehen
es, warum eine so schwächliche Bildung die wahre Kunst
hasst; denn sie fürchtet durch sie ihren Untergang. Aber
sollte nicht eine ganze Culturtendenz, nämlich jene sokratisch¬
alexandrinische, sich ausgelebt haben, nachdem sie in eine
so zierlich-schmächtige Spitze, wie die gegenwärtige Bildung
ist, auslaufen konnte! Wenn es solchen Helden, wie Schiller
und Goethe, nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu
erbrechen, die in den hellenischen Zauberberg führt, wenn
es bei ihrem muthigsten Ringen nicht weiter gekommen ist
als bis zu jenem Sehnsuchtsblick, den die Goethe'sche Iphi¬
genie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat über
das Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcher
Helden zu hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, an einer
ganz anderen, von allen Bemühungen der bisherigen Cultur
unberührten Seite die Pforte von selbst aufthäte -- unter
dem mystischen Klange der wiedererweckten Tragödienmusik.

Möge uns Niemand unsern Glauben an eine noch be¬
vorstehende Wiedergeburt des hellenischen Alterthums zu
verkümmern suchen; denn in ihm finden wir allein unsre
Hoffnung für eine Erneuerung und Läuterung des deutschen
Geistes durch den Feuerzauber der Musik. Was wüssten
wir sonst zu nennen, was in der Verödung und Ermattung
der jetzigen Cultur irgend welche tröstliche Erwartung für
die Zukunft erwecken könnte? Vergebens spähen wir nach
einer einzigen kräftig geästeten Wurzel, nach einem Fleck

derartig Gebildeten einer solchen Gegenwart jenes Phänomen
anstarren, das nur etwa aus dem tiefsten Grunde des bisher
unbegriffnen hellenischen Genius analogisch zu begreifen wäre,
das Wiedererwachen des dionysischen Geistes und die Wieder¬
geburt der Tragödie? Es giebt keine andere Kunstperiode,
in der sich die sogenannte Bildung und die eigentliche Kunst
so befremdet und abgeneigt gegenübergestanden hätten, als
wir das in der Gegenwart mit Augen sehn. Wir verstehen
es, warum eine so schwächliche Bildung die wahre Kunst
hasst; denn sie fürchtet durch sie ihren Untergang. Aber
sollte nicht eine ganze Culturtendenz, nämlich jene sokratisch¬
alexandrinische, sich ausgelebt haben, nachdem sie in eine
so zierlich-schmächtige Spitze, wie die gegenwärtige Bildung
ist, auslaufen konnte! Wenn es solchen Helden, wie Schiller
und Goethe, nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu
erbrechen, die in den hellenischen Zauberberg führt, wenn
es bei ihrem muthigsten Ringen nicht weiter gekommen ist
als bis zu jenem Sehnsuchtsblick, den die Goethe'sche Iphi¬
genie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat über
das Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcher
Helden zu hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, an einer
ganz anderen, von allen Bemühungen der bisherigen Cultur
unberührten Seite die Pforte von selbst aufthäte — unter
dem mystischen Klange der wiedererweckten Tragödienmusik.

Möge uns Niemand unsern Glauben an eine noch be¬
vorstehende Wiedergeburt des hellenischen Alterthums zu
verkümmern suchen; denn in ihm finden wir allein unsre
Hoffnung für eine Erneuerung und Läuterung des deutschen
Geistes durch den Feuerzauber der Musik. Was wüssten
wir sonst zu nennen, was in der Verödung und Ermattung
der jetzigen Cultur irgend welche tröstliche Erwartung für
die Zukunft erwecken könnte? Vergebens spähen wir nach
einer einzigen kräftig geästeten Wurzel, nach einem Fleck

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[—116—/0129] derartig Gebildeten einer solchen Gegenwart jenes Phänomen anstarren, das nur etwa aus dem tiefsten Grunde des bisher unbegriffnen hellenischen Genius analogisch zu begreifen wäre, das Wiedererwachen des dionysischen Geistes und die Wieder¬ geburt der Tragödie? Es giebt keine andere Kunstperiode, in der sich die sogenannte Bildung und die eigentliche Kunst so befremdet und abgeneigt gegenübergestanden hätten, als wir das in der Gegenwart mit Augen sehn. Wir verstehen es, warum eine so schwächliche Bildung die wahre Kunst hasst; denn sie fürchtet durch sie ihren Untergang. Aber sollte nicht eine ganze Culturtendenz, nämlich jene sokratisch¬ alexandrinische, sich ausgelebt haben, nachdem sie in eine so zierlich-schmächtige Spitze, wie die gegenwärtige Bildung ist, auslaufen konnte! Wenn es solchen Helden, wie Schiller und Goethe, nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in den hellenischen Zauberberg führt, wenn es bei ihrem muthigsten Ringen nicht weiter gekommen ist als bis zu jenem Sehnsuchtsblick, den die Goethe'sche Iphi¬ genie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat über das Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcher Helden zu hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, an einer ganz anderen, von allen Bemühungen der bisherigen Cultur unberührten Seite die Pforte von selbst aufthäte — unter dem mystischen Klange der wiedererweckten Tragödienmusik. Möge uns Niemand unsern Glauben an eine noch be¬ vorstehende Wiedergeburt des hellenischen Alterthums zu verkümmern suchen; denn in ihm finden wir allein unsre Hoffnung für eine Erneuerung und Läuterung des deutschen Geistes durch den Feuerzauber der Musik. Was wüssten wir sonst zu nennen, was in der Verödung und Ermattung der jetzigen Cultur irgend welche tröstliche Erwartung für die Zukunft erwecken könnte? Vergebens spähen wir nach einer einzigen kräftig geästeten Wurzel, nach einem Fleck

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —116—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/129>, abgerufen am 24.04.2024.