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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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der Gegenwart oder stumpf betäubte Abkehr, Alles sub specie
saeculi, der "Jetztzeit": als welche gleichen Symptome auf
einen gleichen Mangel im Herzen dieser Cultur zu rathen
geben, auf die Vernichtung des Mythus. Es scheint kaum
möglich zu sein, mit dauerndem Erfolge einen fremden My¬
thus überzupflanzen, ohne den Baum durch dieses Ueber¬
pflanzen heillos zu beschädigen: als welcher vielleicht einmal
stark und gesund genug ist, jenes fremde Element mit furcht¬
barem Kampfe wieder auszuscheiden, für gewöhnlich aber
siech und verkümmert oder in krankhaftem Wuchern sich
verzehren muss. Wir halten so viel von dem reinen und
kräftigen Kerne des deutschen Wesens, dass wir gerade von
ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder
Elemente zu erwarten wagen und es für möglich erachten,
dass der deutsche Geist sich auf sich selbst zurückbesinnt.
Vielleicht wird Mancher meinen, jener Geist müsse seinen
Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen beginnen:
wozu er eine äusserliche Vorbereitung und Ermuthigung in
der siegreichen Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten
Krieges erkennen dürfte, die innerliche Nöthigung aber in
dem Wetteifer suchen muss, der erhabenen Vorkämpfer auf
dieser Bahn, Luther's ebensowohl als unserer grossen Künst¬
ler und Dichter, stets werth zu sein. Aber nie möge er
glauben, ähnliche Kämpfe ohne seine Hausgötter, ohne seine
mythische Heimat, ohne ein "Wiederbringen" aller deutschen
Dinge, kämpfen zu können! Und wenn der Deutsche za¬
gend sich nach einem Führer umblicken sollte, der ihn wie¬
der in die längst verlorne Heimat zurückbringe, deren Wege
und Stege er kaum mehr kennt -- so mag er nur dem
wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen,
der über ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will.

der Gegenwart oder stumpf betäubte Abkehr, Alles sub specie
saeculi, der »Jetztzeit«: als welche gleichen Symptome auf
einen gleichen Mangel im Herzen dieser Cultur zu rathen
geben, auf die Vernichtung des Mythus. Es scheint kaum
möglich zu sein, mit dauerndem Erfolge einen fremden My¬
thus überzupflanzen, ohne den Baum durch dieses Ueber¬
pflanzen heillos zu beschädigen: als welcher vielleicht einmal
stark und gesund genug ist, jenes fremde Element mit furcht¬
barem Kampfe wieder auszuscheiden, für gewöhnlich aber
siech und verkümmert oder in krankhaftem Wuchern sich
verzehren muss. Wir halten so viel von dem reinen und
kräftigen Kerne des deutschen Wesens, dass wir gerade von
ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder
Elemente zu erwarten wagen und es für möglich erachten,
dass der deutsche Geist sich auf sich selbst zurückbesinnt.
Vielleicht wird Mancher meinen, jener Geist müsse seinen
Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen beginnen:
wozu er eine äusserliche Vorbereitung und Ermuthigung in
der siegreichen Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten
Krieges erkennen dürfte, die innerliche Nöthigung aber in
dem Wetteifer suchen muss, der erhabenen Vorkämpfer auf
dieser Bahn, Luther's ebensowohl als unserer grossen Künst¬
ler und Dichter, stets werth zu sein. Aber nie möge er
glauben, ähnliche Kämpfe ohne seine Hausgötter, ohne seine
mythische Heimat, ohne ein »Wiederbringen« aller deutschen
Dinge, kämpfen zu können! Und wenn der Deutsche za¬
gend sich nach einem Führer umblicken sollte, der ihn wie¬
der in die längst verlorne Heimat zurückbringe, deren Wege
und Stege er kaum mehr kennt — so mag er nur dem
wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen,
der über ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will.

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[—136—/0149] der Gegenwart oder stumpf betäubte Abkehr, Alles sub specie saeculi, der »Jetztzeit«: als welche gleichen Symptome auf einen gleichen Mangel im Herzen dieser Cultur zu rathen geben, auf die Vernichtung des Mythus. Es scheint kaum möglich zu sein, mit dauerndem Erfolge einen fremden My¬ thus überzupflanzen, ohne den Baum durch dieses Ueber¬ pflanzen heillos zu beschädigen: als welcher vielleicht einmal stark und gesund genug ist, jenes fremde Element mit furcht¬ barem Kampfe wieder auszuscheiden, für gewöhnlich aber siech und verkümmert oder in krankhaftem Wuchern sich verzehren muss. Wir halten so viel von dem reinen und kräftigen Kerne des deutschen Wesens, dass wir gerade von ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder Elemente zu erwarten wagen und es für möglich erachten, dass der deutsche Geist sich auf sich selbst zurückbesinnt. Vielleicht wird Mancher meinen, jener Geist müsse seinen Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen beginnen: wozu er eine äusserliche Vorbereitung und Ermuthigung in der siegreichen Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten Krieges erkennen dürfte, die innerliche Nöthigung aber in dem Wetteifer suchen muss, der erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, Luther's ebensowohl als unserer grossen Künst¬ ler und Dichter, stets werth zu sein. Aber nie möge er glauben, ähnliche Kämpfe ohne seine Hausgötter, ohne seine mythische Heimat, ohne ein »Wiederbringen« aller deutschen Dinge, kämpfen zu können! Und wenn der Deutsche za¬ gend sich nach einem Führer umblicken sollte, der ihn wie¬ der in die längst verlorne Heimat zurückbringe, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt — so mag er nur dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der über ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will.

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —136—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/149>, abgerufen am 24.04.2024.