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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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24.

Wir hatten unter den eigentümlichen Kunstwirkungen
der musikalischen Tragödie eine apollinische Täuschung her¬
vorzuheben, durch die wir vor dem unmittelbaren Einssein
mit der dionysischen Musik gerettet werden sollen, während
unsre musikalische Erregung sich auf einem apollinischen Ge¬
biete und an einer dazwischengeschobenen sichtbaren Mittel¬
welt entladen kann. Dabei glaubten wir beobachtet zu haben,
wie eben durch diese Entladung jene Mittelwelt des scenischen
Vorgangs, überhaupt das Drama, in einem Grade von innen
heraus sichtbar und verständlich wurde, der in aller sonstigen
apollinischen Kunst unerreichbar ist: so dass wir hier, wo
diese gleichsam durch den Geist der Musik beschwingt und
emporgetragen war, die höchste Steigerung ihrer Kräfte und
somit in jenem Bruderbunde des Apollo und des Dionysus
die Spitze ebensowohl der apollinischen als der dionysischen
Kunstabsichten anerkennen mussten.

Freilich erreichte das apollinische Lichtbild gerade bei
der inneren Beleuchtung durch die Musik nicht die eigen¬
thümliche Wirkung der schwächeren Grade apollinischer
Kunst; was das Epos oder der beseelte Stein vermögen,
das anschauende Auge zu jenem ruhigen Entzücken an der
Welt der individuatio zu zwingen, das wollte sich hier, trotz
einer höheren Beseeltheit und Deutlichkeit, nicht erreichen
lassen. Wir schauten das Drama an und drangen mit
bohrendem Blick in seine innere bewegte Welt der Motive --
und doch war uns, als ob nur ein Gleichnissbild an uns
vorüberzöge, dessen tiefsten Sinn wir fast zu errathen glaub¬
ten und das wir, wie einen Vorhang, fortzuziehen wünschten,
um hinter ihm das Urbild zu erblicken. Die hellste Deutlich¬
keit des Bildes genügte uns nicht: denn dieses schien eben so

24.

Wir hatten unter den eigentümlichen Kunstwirkungen
der musikalischen Tragödie eine apollinische Täuschung her¬
vorzuheben, durch die wir vor dem unmittelbaren Einssein
mit der dionysischen Musik gerettet werden sollen, während
unsre musikalische Erregung sich auf einem apollinischen Ge¬
biete und an einer dazwischengeschobenen sichtbaren Mittel¬
welt entladen kann. Dabei glaubten wir beobachtet zu haben,
wie eben durch diese Entladung jene Mittelwelt des scenischen
Vorgangs, überhaupt das Drama, in einem Grade von innen
heraus sichtbar und verständlich wurde, der in aller sonstigen
apollinischen Kunst unerreichbar ist: so dass wir hier, wo
diese gleichsam durch den Geist der Musik beschwingt und
emporgetragen war, die höchste Steigerung ihrer Kräfte und
somit in jenem Bruderbunde des Apollo und des Dionysus
die Spitze ebensowohl der apollinischen als der dionysischen
Kunstabsichten anerkennen mussten.

Freilich erreichte das apollinische Lichtbild gerade bei
der inneren Beleuchtung durch die Musik nicht die eigen¬
thümliche Wirkung der schwächeren Grade apollinischer
Kunst; was das Epos oder der beseelte Stein vermögen,
das anschauende Auge zu jenem ruhigen Entzücken an der
Welt der individuatio zu zwingen, das wollte sich hier, trotz
einer höheren Beseeltheit und Deutlichkeit, nicht erreichen
lassen. Wir schauten das Drama an und drangen mit
bohrendem Blick in seine innere bewegte Welt der Motive —
und doch war uns, als ob nur ein Gleichnissbild an uns
vorüberzöge, dessen tiefsten Sinn wir fast zu errathen glaub¬
ten und das wir, wie einen Vorhang, fortzuziehen wünschten,
um hinter ihm das Urbild zu erblicken. Die hellste Deutlich¬
keit des Bildes genügte uns nicht: denn dieses schien eben so

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[—137—/0150] 24. Wir hatten unter den eigentümlichen Kunstwirkungen der musikalischen Tragödie eine apollinische Täuschung her¬ vorzuheben, durch die wir vor dem unmittelbaren Einssein mit der dionysischen Musik gerettet werden sollen, während unsre musikalische Erregung sich auf einem apollinischen Ge¬ biete und an einer dazwischengeschobenen sichtbaren Mittel¬ welt entladen kann. Dabei glaubten wir beobachtet zu haben, wie eben durch diese Entladung jene Mittelwelt des scenischen Vorgangs, überhaupt das Drama, in einem Grade von innen heraus sichtbar und verständlich wurde, der in aller sonstigen apollinischen Kunst unerreichbar ist: so dass wir hier, wo diese gleichsam durch den Geist der Musik beschwingt und emporgetragen war, die höchste Steigerung ihrer Kräfte und somit in jenem Bruderbunde des Apollo und des Dionysus die Spitze ebensowohl der apollinischen als der dionysischen Kunstabsichten anerkennen mussten. Freilich erreichte das apollinische Lichtbild gerade bei der inneren Beleuchtung durch die Musik nicht die eigen¬ thümliche Wirkung der schwächeren Grade apollinischer Kunst; was das Epos oder der beseelte Stein vermögen, das anschauende Auge zu jenem ruhigen Entzücken an der Welt der individuatio zu zwingen, das wollte sich hier, trotz einer höheren Beseeltheit und Deutlichkeit, nicht erreichen lassen. Wir schauten das Drama an und drangen mit bohrendem Blick in seine innere bewegte Welt der Motive — und doch war uns, als ob nur ein Gleichnissbild an uns vorüberzöge, dessen tiefsten Sinn wir fast zu errathen glaub¬ ten und das wir, wie einen Vorhang, fortzuziehen wünschten, um hinter ihm das Urbild zu erblicken. Die hellste Deutlich¬ keit des Bildes genügte uns nicht: denn dieses schien eben so

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —137—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/150>, abgerufen am 16.04.2024.