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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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verblassten vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die
Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen rief Wehe! Wehe!
aus gegen die heiteren Olympier. Das Individuum, mit all
seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstver¬
gessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die
apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthüllte sich als
Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene
Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus.
Und so war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang,
das Apollinische aufgehoben und vernichtet. Aber eben so
gewiss ist, dass dort, wo der erste Ansturm ausgehalten
wurde, das Ansehen und die Majestät des delphischen Gottes
starrer und drohender als je sich äusserte. Ich vermag näm¬
lich den dorischen Staat und die dorische Kunst mir nur als
ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären:
nur in einem unausgesetzten Widerstreben gegen das titanisch¬
barbarische Dionysusthum konnte eine so trotzig-spröde, mit
Bollwerken umschlossene Kunst, eine so kriegsgemässe und
herbe Erziehung, ein so grausames und rücksichtsloses Staats¬
wesen von längerer Dauer sein.

Bis zu diesem Punkte ist des Weiteren ausgeführt worden,
was ich am Eingange dieser Abhandlung bemerkte: wie das
Dionysische und das Apollinische in auf einander folgenden
Geburten, und sich gegenseitig steigernd das hellenische Wesen
beherrscht haben: wie aus dem "erzenen" Zeitalter, mit
seinen Titanenkämpfen und seiner herben Volksphilosophie,
sich unter dem Walten des apollinischen Schönheitstriebes,
die homerische Welt entwickelt, wie diese "naive" Herrlich¬
keit wieder von dem einbrechenden Strome des Dionysischen
verschlungen wird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich
das Apollinische zur starren Majestät der dorischen Kunst und
Weltbetrachtung erhebt. Wenn auf diese Weise die ältere helle¬
nische Geschichte, im Kampf jener zwei feindseligen Principien,

verblassten vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die
Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen rief Wehe! Wehe!
aus gegen die heiteren Olympier. Das Individuum, mit all
seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstver¬
gessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die
apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthüllte sich als
Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene
Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus.
Und so war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang,
das Apollinische aufgehoben und vernichtet. Aber eben so
gewiss ist, dass dort, wo der erste Ansturm ausgehalten
wurde, das Ansehen und die Majestät des delphischen Gottes
starrer und drohender als je sich äusserte. Ich vermag näm¬
lich den dorischen Staat und die dorische Kunst mir nur als
ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären:
nur in einem unausgesetzten Widerstreben gegen das titanisch¬
barbarische Dionysusthum konnte eine so trotzig-spröde, mit
Bollwerken umschlossene Kunst, eine so kriegsgemässe und
herbe Erziehung, ein so grausames und rücksichtsloses Staats¬
wesen von längerer Dauer sein.

Bis zu diesem Punkte ist des Weiteren ausgeführt worden,
was ich am Eingange dieser Abhandlung bemerkte: wie das
Dionysische und das Apollinische in auf einander folgenden
Geburten, und sich gegenseitig steigernd das hellenische Wesen
beherrscht haben: wie aus dem »erzenen« Zeitalter, mit
seinen Titanenkämpfen und seiner herben Volksphilosophie,
sich unter dem Walten des apollinischen Schönheitstriebes,
die homerische Welt entwickelt, wie diese »naive« Herrlich¬
keit wieder von dem einbrechenden Strome des Dionysischen
verschlungen wird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich
das Apollinische zur starren Majestät der dorischen Kunst und
Weltbetrachtung erhebt. Wenn auf diese Weise die ältere helle¬
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[—18—/0031] verblassten vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olympier. Das Individuum, mit all seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstver¬ gessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus. Und so war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet. Aber eben so gewiss ist, dass dort, wo der erste Ansturm ausgehalten wurde, das Ansehen und die Majestät des delphischen Gottes starrer und drohender als je sich äusserte. Ich vermag näm¬ lich den dorischen Staat und die dorische Kunst mir nur als ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären: nur in einem unausgesetzten Widerstreben gegen das titanisch¬ barbarische Dionysusthum konnte eine so trotzig-spröde, mit Bollwerken umschlossene Kunst, eine so kriegsgemässe und herbe Erziehung, ein so grausames und rücksichtsloses Staats¬ wesen von längerer Dauer sein. Bis zu diesem Punkte ist des Weiteren ausgeführt worden, was ich am Eingange dieser Abhandlung bemerkte: wie das Dionysische und das Apollinische in auf einander folgenden Geburten, und sich gegenseitig steigernd das hellenische Wesen beherrscht haben: wie aus dem »erzenen« Zeitalter, mit seinen Titanenkämpfen und seiner herben Volksphilosophie, sich unter dem Walten des apollinischen Schönheitstriebes, die homerische Welt entwickelt, wie diese »naive« Herrlich¬ keit wieder von dem einbrechenden Strome des Dionysischen verschlungen wird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich das Apollinische zur starren Majestät der dorischen Kunst und Weltbetrachtung erhebt. Wenn auf diese Weise die ältere helle¬ nische Geschichte, im Kampf jener zwei feindseligen Principien,

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —18—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/31>, abgerufen am 28.03.2024.