Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Medium der Musik anschaut, um ihn herum in drängender
und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch
dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild
im Zustande des unbefriedigten Gefühls: sein eignes Wollen,
Sehnen, Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem
er die Musik sich deutet. Dies ist das Phänomen des Lyri¬
kers: als apollinischer Genius interpretirt er die Musik durch
das Bild des Willens, während er selbst völlig losgelöst von
der Gier des Willens, reines ungetrübtes Sonnenauge ist.

Diese ganze Erörterung hält daran fest, dass die Lyrik
eben so abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik
selbst in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den
Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich erträgt.
Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht
in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits
in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nöthigte. Der
Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache
auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf
den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen
symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle
Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegenüber
ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss: daher kann die
Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und
nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren,
sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der
Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der
Musik, während deren tiefster Kern, durch alle lyrische Be¬
redsamkeit, uns auch keinen Schritt näher gebracht werden
kann.

Medium der Musik anschaut, um ihn herum in drängender
und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch
dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild
im Zustande des unbefriedigten Gefühls: sein eignes Wollen,
Sehnen, Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem
er die Musik sich deutet. Dies ist das Phänomen des Lyri¬
kers: als apollinischer Genius interpretirt er die Musik durch
das Bild des Willens, während er selbst völlig losgelöst von
der Gier des Willens, reines ungetrübtes Sonnenauge ist.

Diese ganze Erörterung hält daran fest, dass die Lyrik
eben so abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik
selbst in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den
Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich erträgt.
Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht
in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits
in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nöthigte. Der
Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache
auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf
den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen
symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle
Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegenüber
ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss: daher kann die
Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und
nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren,
sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der
Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der
Musik, während deren tiefster Kern, durch alle lyrische Be¬
redsamkeit, uns auch keinen Schritt näher gebracht werden
kann.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0042" n="&#x2014;29&#x2014;"/>
Medium der Musik anschaut, um ihn herum in drängender<lb/>
und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch<lb/>
dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild<lb/>
im Zustande des unbefriedigten Gefühls: sein eignes Wollen,<lb/>
Sehnen, Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem<lb/>
er die Musik sich deutet. Dies ist das Phänomen des Lyri¬<lb/>
kers: als apollinischer Genius interpretirt er die Musik durch<lb/>
das Bild des Willens, während er selbst völlig losgelöst von<lb/>
der Gier des Willens, reines ungetrübtes Sonnenauge ist.</p><lb/>
        <p>Diese ganze Erörterung hält daran fest, dass die Lyrik<lb/>
eben so abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik<lb/>
selbst in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den<lb/>
Begriff nicht <hi rendition="#i">braucht</hi>, sondern ihn nur neben sich <hi rendition="#i">erträgt</hi>.<lb/>
Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht<lb/>
in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits<lb/>
in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nöthigte. Der<lb/>
Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache<lb/>
auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf<lb/>
den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen<lb/>
symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle<lb/>
Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegenüber<lb/>
ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss: daher kann die<lb/><hi rendition="#i">Sprache</hi>, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und<lb/>
nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren,<lb/>
sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der<lb/>
Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der<lb/>
Musik, während deren tiefster Kern, durch alle lyrische Be¬<lb/>
redsamkeit, uns auch keinen Schritt näher gebracht werden<lb/>
kann.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[—29—/0042] Medium der Musik anschaut, um ihn herum in drängender und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild im Zustande des unbefriedigten Gefühls: sein eignes Wollen, Sehnen, Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem er die Musik sich deutet. Dies ist das Phänomen des Lyri¬ kers: als apollinischer Genius interpretirt er die Musik durch das Bild des Willens, während er selbst völlig losgelöst von der Gier des Willens, reines ungetrübtes Sonnenauge ist. Diese ganze Erörterung hält daran fest, dass die Lyrik eben so abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik selbst in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich erträgt. Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nöthigte. Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegenüber ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss: daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik, während deren tiefster Kern, durch alle lyrische Be¬ redsamkeit, uns auch keinen Schritt näher gebracht werden kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/42
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —29—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/42>, abgerufen am 29.03.2024.