Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein
Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.

"Wir haben das Glück erfunden" -- sagen die
letzten Menschen und blinzeln. --

Und hier endete die erste Rede Zarathustra's, welche
man auch "die Vorrede" heisst: denn an dieser Stelle
unterbrach ihn das Geschrei und die Lust der Menge.
"Gieb uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra, --
so riefen sie -- mache uns zu diesen letzten Menschen!
So schenken wir dir den Übermenschen!" Und alles
Volk jubelte und schnalzte mit der Zunge. Zarathustra
aber wurde traurig und sagte zu seinem Herzen:

Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht der Mund
für diese Ohren.

Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu viel horchte
ich auf Bäche und Bäume: nun rede ich ihnen gleich
den Ziegenhirten.

Unbewegt ist meine Seele und hell wie das Ge¬
birge am Vormittag. Aber sie meinen, ich sei kalt
und ein Spötter in furchtbaren Spässen.

Und nun blicken sie mich an und lachen: und
indem sie lachen, hassen sie mich noch. Es ist Eis in
ihrem Lachen.


6.

Da aber geschah Etwas, das jeden Mund stumm
und jedes Auge starr machte. Inzwischen nämlich
hatte der Seiltänzer sein Werk begonnen: er war aus

2

Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein
Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.

„Wir haben das Glück erfunden“ — sagen die
letzten Menschen und blinzeln. —

Und hier endete die erste Rede Zarathustra's, welche
man auch „die Vorrede“ heisst: denn an dieser Stelle
unterbrach ihn das Geschrei und die Lust der Menge.
„Gieb uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra, —
so riefen sie — mache uns zu diesen letzten Menschen!
So schenken wir dir den Übermenschen!“ Und alles
Volk jubelte und schnalzte mit der Zunge. Zarathustra
aber wurde traurig und sagte zu seinem Herzen:

Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht der Mund
für diese Ohren.

Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu viel horchte
ich auf Bäche und Bäume: nun rede ich ihnen gleich
den Ziegenhirten.

Unbewegt ist meine Seele und hell wie das Ge¬
birge am Vormittag. Aber sie meinen, ich sei kalt
und ein Spötter in furchtbaren Spässen.

Und nun blicken sie mich an und lachen: und
indem sie lachen, hassen sie mich noch. Es ist Eis in
ihrem Lachen.


6.

Da aber geschah Etwas, das jeden Mund stumm
und jedes Auge starr machte. Inzwischen nämlich
hatte der Seiltänzer sein Werk begonnen: er war aus

2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0023" n="17"/>
          <p>Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein<lb/>
Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Wir haben das Glück erfunden&#x201C; &#x2014; sagen die<lb/>
letzten Menschen und blinzeln. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Und hier endete die erste Rede Zarathustra's, welche<lb/>
man auch &#x201E;die Vorrede&#x201C; heisst: denn an dieser Stelle<lb/>
unterbrach ihn das Geschrei und die Lust der Menge.<lb/>
&#x201E;Gieb uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra, &#x2014;<lb/>
so riefen sie &#x2014; mache uns zu diesen letzten Menschen!<lb/>
So schenken wir dir den Übermenschen!&#x201C; Und alles<lb/>
Volk jubelte und schnalzte mit der Zunge. Zarathustra<lb/>
aber wurde traurig und sagte zu seinem Herzen:</p><lb/>
          <p>Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht der Mund<lb/>
für diese Ohren.</p><lb/>
          <p>Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu viel horchte<lb/>
ich auf Bäche und Bäume: nun rede ich ihnen gleich<lb/>
den Ziegenhirten.</p><lb/>
          <p>Unbewegt ist meine Seele und hell wie das Ge¬<lb/>
birge am Vormittag. Aber sie meinen, ich sei kalt<lb/>
und ein Spötter in furchtbaren Spässen.</p><lb/>
          <p>Und nun blicken sie mich an und lachen: und<lb/>
indem sie lachen, hassen sie mich noch. Es ist Eis in<lb/>
ihrem Lachen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head>6.<lb/></head>
          <p>Da aber geschah Etwas, das jeden Mund stumm<lb/>
und jedes Auge starr machte. Inzwischen nämlich<lb/>
hatte der Seiltänzer sein Werk begonnen: er war aus<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">2<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0023] Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. „Wir haben das Glück erfunden“ — sagen die letzten Menschen und blinzeln. — Und hier endete die erste Rede Zarathustra's, welche man auch „die Vorrede“ heisst: denn an dieser Stelle unterbrach ihn das Geschrei und die Lust der Menge. „Gieb uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra, — so riefen sie — mache uns zu diesen letzten Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen!“ Und alles Volk jubelte und schnalzte mit der Zunge. Zarathustra aber wurde traurig und sagte zu seinem Herzen: Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht der Mund für diese Ohren. Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu viel horchte ich auf Bäche und Bäume: nun rede ich ihnen gleich den Ziegenhirten. Unbewegt ist meine Seele und hell wie das Ge¬ birge am Vormittag. Aber sie meinen, ich sei kalt und ein Spötter in furchtbaren Spässen. Und nun blicken sie mich an und lachen: und indem sie lachen, hassen sie mich noch. Es ist Eis in ihrem Lachen. 6. Da aber geschah Etwas, das jeden Mund stumm und jedes Auge starr machte. Inzwischen nämlich hatte der Seiltänzer sein Werk begonnen: er war aus 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra01_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra01_1883/23
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra01_1883/23>, abgerufen am 19.04.2024.