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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883.

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Vom neuen Götzen.

Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch
nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten.

Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt thut mir die
Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom
Tode der Völker.

Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer.
Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem
Munde: "Ich, der Staat, bin das Volk."

Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die
Völker und hängten einen Glauben und eine Liebe
über sie hin: also dienten sie dem Leben.

Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für Viele
und heissen sie Staat: sie hängen ein Schwert und
hundert Begierden über sie hin.

Wo es noch Volk giebt, da versteht es den Staat
nicht und hasst ihn als bösen Blick und Sünde an
Sitten und Rechten.

Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes Volk spricht
seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der
Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es sich in Sitten
und Rechten.

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Vom neuen Götzen.

Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch
nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten.

Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt thut mir die
Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom
Tode der Völker.

Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer.
Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem
Munde: „Ich, der Staat, bin das Volk.“

Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die
Völker und hängten einen Glauben und eine Liebe
über sie hin: also dienten sie dem Leben.

Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für Viele
und heissen sie Staat: sie hängen ein Schwert und
hundert Begierden über sie hin.

Wo es noch Volk giebt, da versteht es den Staat
nicht und hasst ihn als bösen Blick und Sünde an
Sitten und Rechten.

Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes Volk spricht
seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der
Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es sich in Sitten
und Rechten.

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[65/0071] Vom neuen Götzen. Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten. Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt thut mir die Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode der Völker. Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: „Ich, der Staat, bin das Volk.“ Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die Völker und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten sie dem Leben. Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für Viele und heissen sie Staat: sie hängen ein Schwert und hundert Begierden über sie hin. Wo es noch Volk giebt, da versteht es den Staat nicht und hasst ihn als bösen Blick und Sünde an Sitten und Rechten. Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes Volk spricht seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es sich in Sitten und Rechten. 5

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra01_1883/71>, abgerufen am 28.03.2024.