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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 3. Chemnitz, 1884.

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Und wahrlich, diess ist eine vornehme Rede,
welche spricht: "was uns das Leben verspricht, das
wollen wir -- dem Leben halten!"

Man soll nicht geniessen wollen, wo man nicht
zu geniessen giebt. Und -- man soll nicht geniessen
wollen!

Genuss und Unschuld nämlich sind die scham¬
haftesten Dinge: Beide wollen nicht gesucht sein.
Man soll sie haben --, aber man soll eher noch nach
Schuld und Schmerzen suchen! --


6.

Oh meine Brüder, wer ein Erstling ist, der wird
immer geopfert. Nun aber sind wir Erstlinge.

Wir bluten Alle an geheimen Opfertischen, wir
brennen und braten Alle zu Ehren alter Götzenbilder.

Unser Bestes ist noch jung: das reizt alte Gaumen
Unser Fleisch ist zart, unser Fell ist nur ein Lamm-
Fell: -- wie sollten wir nicht alte Götzenpriester
reizen!

In uns selber wohnt er noch, der alte Götzen¬
priester, der unser Bestes sich zum Schmause brät. Ach,
meine Brüder, wie sollten Erstlinge nicht Opfer sein!

Aber so will es unsre Art; und ich liebe Die,
welche sich nicht bewahren wollen. Die Untergehenden
liebe ich mit meiner ganzen Liebe: denn sie gehn
hinüber. --


Und wahrlich, diess ist eine vornehme Rede,
welche spricht: „was uns das Leben verspricht, das
wollen wir — dem Leben halten!“

Man soll nicht geniessen wollen, wo man nicht
zu geniessen giebt. Und — man soll nicht geniessen
wollen!

Genuss und Unschuld nämlich sind die scham¬
haftesten Dinge: Beide wollen nicht gesucht sein.
Man soll sie haben —, aber man soll eher noch nach
Schuld und Schmerzen suchen! —


6.

Oh meine Brüder, wer ein Erstling ist, der wird
immer geopfert. Nun aber sind wir Erstlinge.

Wir bluten Alle an geheimen Opfertischen, wir
brennen und braten Alle zu Ehren alter Götzenbilder.

Unser Bestes ist noch jung: das reizt alte Gaumen
Unser Fleisch ist zart, unser Fell ist nur ein Lamm-
Fell: — wie sollten wir nicht alte Götzenpriester
reizen!

In uns selber wohnt er noch, der alte Götzen¬
priester, der unser Bestes sich zum Schmause brät. Ach,
meine Brüder, wie sollten Erstlinge nicht Opfer sein!

Aber so will es unsre Art; und ich liebe Die,
welche sich nicht bewahren wollen. Die Untergehenden
liebe ich mit meiner ganzen Liebe: denn sie gehn
hinüber. —


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[70/0080] Und wahrlich, diess ist eine vornehme Rede, welche spricht: „was uns das Leben verspricht, das wollen wir — dem Leben halten!“ Man soll nicht geniessen wollen, wo man nicht zu geniessen giebt. Und — man soll nicht geniessen wollen! Genuss und Unschuld nämlich sind die scham¬ haftesten Dinge: Beide wollen nicht gesucht sein. Man soll sie haben —, aber man soll eher noch nach Schuld und Schmerzen suchen! — 6. Oh meine Brüder, wer ein Erstling ist, der wird immer geopfert. Nun aber sind wir Erstlinge. Wir bluten Alle an geheimen Opfertischen, wir brennen und braten Alle zu Ehren alter Götzenbilder. Unser Bestes ist noch jung: das reizt alte Gaumen Unser Fleisch ist zart, unser Fell ist nur ein Lamm- Fell: — wie sollten wir nicht alte Götzenpriester reizen! In uns selber wohnt er noch, der alte Götzen¬ priester, der unser Bestes sich zum Schmause brät. Ach, meine Brüder, wie sollten Erstlinge nicht Opfer sein! Aber so will es unsre Art; und ich liebe Die, welche sich nicht bewahren wollen. Die Untergehenden liebe ich mit meiner ganzen Liebe: denn sie gehn hinüber. —

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 3. Chemnitz, 1884, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra03_1884/80>, abgerufen am 28.03.2024.