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Allgemeine Zeitung. Nr. 72. Augsburg (Bayern), 13. März 1871.

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Allgemeine Zeitung.
Nr. 72.
Augsburg, Montag, 13 März 1871.


Verlag der J. G. Cotta' schen Buchhandlung. Für die Redaction verantwortlich: Dr. J. v. Gosen.



Montags erscheint nur ein Blatt.

[Beginn Spaltensatz]
Uebersicht.

Zur moralischen Rückeroberung des Elsaßes. -- Das Französische im neuen
deutschen Reich. ( I. Schluß. )

Neueste Posten. München: Ordensverleihung. Audienzen.
Trauergottesdienst. Das Cultusministerium. Wilhelmshöhe:
Protest des Exkaisers. Bern: Die Rückkehr der internirten Franzosen.
Störung des deutschen Friedensfestes in Zürich. Aufhebung der Vieh-
sperre. Ueberbrückung des Rheins. Kriegsgericht. Zürich: Franzosen-
Putsch gegen eine deutsche Friedensfeier. London: Aus dem Unter-
haus. Bordeaux: Aus der Nationalversammlung. Rom: Graf
Tauffkirchen. -- Verschiedenes. -- Jndustrie, Handel und Verkehr.



Telegraphische Berichte.

* Berlin, 11 März. Die "Nordd. Allg. Ztg." erfährt: Die Auf-
stellung der Armee während der nächsten Occupationsphase ist derart ge-
ordnet, daß von der untern Seine, wo die erste Armee verbleibt, sich die
übrigen Armeen ununterbrochen aneinanderschließen bis Dijon hin, wo
die Linie durch die Südarmee geschlossen wird. Das zur Südarmee ge-
hörige vierzehnte Armeecorps wird nächstens aufgelöst, und dafür das
fünfte Armeecorps der Südarmee beigegeben. Das Centrum der Auf-
stellung bilden die Maasarmee, die dritte Armee, woran sich etwa beim
Einfluß der Aube in die Seine die zweite Armee anschließt. Es ist
bereits Befehl ertheilt die Landwehren sowohl aus dem Corpsverband
als aus den Garnisonen unverzüglich in die Heimath zu entlassen.
Die den an Deutschland abgetretenen Landestheilen angehörenden
Kriegsgefangenen, welche im bisherigen Jnternirungsort zu verbleiben wün-
schen, werden sofort in Freiheit gesetzt; diejenigen welche sich in die Hei-
math begeben wollen, sollen so behandelt werden wie auf Revers entlassene
Officiere. Diejenigen die in französischen Kriegsdiensten verbleiben wollen,
werden wie andere Kriegsgefangene lediglich nach Maßgabe des Friedens-
vertrags behandelt.

( * ) Berlin, 11 März. Dem Vernehmen nach ist die Demobili-
sirung der Garnisonsbataillone und interimistischen Besatzungstruppen,
sowie die Desarmirung der Festungen und Küstenbefestigungen bereits an-
geordnet. Es heißt: nach Durchführung der Demobilisirung der gesamm-
ten Armee werde beabsichtigt die ältesten Jahrgänge der Landwehr zum
Landsturm überzuführen.

( * ) Roubaix, 11 März. Die Arbeitseinstellung hat zugenommen.
Jm Arbeiterviertel finden Zusammenrottungen statt. Der Generalprocu-
rator ist angekommen. Mehrere Personen sind gerichtlich verurtheilt wor-
den. Man befürchtet Unruhen.

Weitere Telegramme siehe fünfte Seite.

Zur moralischen Rückeroberung des Elsaßes.

^ Straßburg, 4 März. Von der "moralischen Rückeroberung"
des Elsaßes ist jetzt in der deutschen Presse so vielfach die Rede, daß es
vielleicht von Jnteresse sein dürfte über diesen sehr wichtigen Gegenstand
eine Stimme aus dem Elsaß selbst zu vernehmen. Vorausschicken müssen
wir hiebei daß wir zu denjenigen Elsäßern gehören die sich von Herzen
darüber freuen daß Elsaß nun wiederum zu seiner ursprünglichen Stam-
mesart zurückkehrt und seinen deutschen Charakter wieder gewinnen soll,
welchen es sich durch eine mehr denn zweihundertjährige französische Herr-
schaft hindurch großentheils zu wahren gewußt hat. Diese Erklärung
möge uns zugleich zur Entschuldigung dienen wenn wir in folgendem
vielleicht manches werden sagen müssen was Fernstehenden auffallend oder
zu scharf erscheinen möchte. Jmmerhin wird jeder billig Denkende zu-
geben müssen daß in elsäßischen Angelegenheiten es allererst den Elsäßern
zusteht mitzureden und mitzuurtheilen.

Moralische Eroberungen sind, wie jedermann weiß, nicht immer so
leicht wie materielle Eroberungen. Nun hat Deutschland sieben Monate
eines furchtbaren Kriegs bedurft um Frankreich zwei Provinzen abzuringen
deren Einwohner in großer Mehrzahl nicht das geringste Gefallen dar-
an haben von Deutschland annectirt zu werden. Wer wollte unter
[Spaltenumbruch] solchen Umständen sich einbilden: es könnten, wie das Land, so auch die
Herzen von Elsaß=Lothringen binnen einigen Monaten oder nur innerhalb
eines oder zweier Jahre erobert werden? Geht doch jede moralische Er-
oberung langsam von statten, und sie will, wenn sie anders gedeihlich und
von Dauer sein soll, mit großer Schonung in Angriff genommen werden.
Ein Venetien möchte und soll auch hoffentlich Deutschland an Elsaß=Loth-
ringen nicht haben; darum gilt es auch jetzt den Weg nicht zu verfehlen
und die richtigen Maßregeln zu treffen.

Wenn wir nun zuvörderst von den materiellen Jnteressen reden, die
ja leider bei der Masse eines Volkes immer in erster Linie stehen, so müssen
wir sagen daß dieselben für unser Land sehr berücksichtigt zu werden scheinen.
Deutsche Zeitungen haben schon vielfach unsern Bauern die Vortheile an-
gepriesen die ihnen durch das deutsche Steuerwesen, durch die künftige
Selbstverwaltung der Gemeindegüter, durch freigewählte Municipalitäten
u. s. w. zufließen werden. Daß auch auf unsern Handel und die so bedeu-
tende Jndustrie des Elsaßes beim Friedensschluß gebührende Rücksicht ge-
nommen werden wird, dürfen wir ebenfalls, nach allem was bisher ver-
lautete, zuversichtlich hoffen. Bauern und Jndustrielle mögen sich also
wohlberechtigten guten Hoffnungen hingeben, und sie werden es um so
lieber thun als wir bisher, obschon unser Land nicht bloß besetzt, sondern
bereits in der Reorganisation begriffen ist, in materieller Beziehung gar
sehr wenig geschont wurden. Hatten wir doch, zufolge officiöser Nachrich-
ten aus Versailles, bis vor acht Tagen geglaubt wir würden ohne Kriegs-
steuern zu zahlen an Deutschland übergehen, da fiel uns plötzlich wie ein
Blitz aus heiterm Himmel die Kopfsteuer von 25 Francs zu! Welch schlim-
men Eindruck diese Maßregel auf unsere ganze Bevölkerung machte läßt
sich leicht errathen, und wir würden darüber uns sehr beklagen, wenn nicht
heute erst aus dem Hauptquartier die Nachricht eingetroffen wäre daß
fortan keinerlei Contributionen mehr bei uns sollen erhoben werden, was
natürlich die Aufhebung auch dieser Kopfsteuer bedeutet. Daß aber Elsaß-
Lothringen bisher nicht geschont worden, das bezeugte neulich selbst ein Corre-
spondent der "Allg. Z.," der offen erklärte: "Wir haben eben bisher noch
nichts gethan um den Elsäßern zu zeigen daß uns an ihnen etwas gelegen
sei." Wie viel materiellen Gewinn unser Land durch seinen Uebergang
an Deutschland davon tragen wird, darüber wird uns die nächste Zukunft
belehren.

Fassen wir nun weiter den moralischen und socialen Charakter unsres
Volkslebens ins Auge, und fragen wir: Wie soll auf diesem Gebiete die
"moralische Rückeroberung" zu Stande kommen? Vorschläge genug die
hierüber bis jetzt zu Tage gefördert worden, wären hier des längern zu
erörtern; wir wollen uns jedoch für heut auf einige Bemerkungen beschrän-
ken. Und zwar müssen wir vor allen Dingen aussprechen wie schmerzlich
es uns berührt hat zu sehen daß manche deutsche Blätter den moralischen
und socialen Charakter der Elsäßer so tief herabgesetzt haben. Dieß konnte
nur geschehen entweder aus Unkenntniß -- aber dann hätte man sich erst
eines bessern belehren sollen -- oder aus besonderer Absicht; man habe
es nämlich, wie etliche meinen, darauf abgesehen überall recht viele Schä-
den und Mäkel herauszufinden, um dem gegenüber die Vorzüge des deut-
schen Charakters und des deutschen Volkslebens um so höher zu erheben;
aber solches Verfahren würde weder von politischer Klugheit zeugen, noch
wäre es ein moralisch zu rechtfertigendes. Es ist eben keine leichte Sache
einen nationalen Charakter zu kennen und zu beurtheilen, dazu gehört eine
lange vieljährige Erfahrung, welche wohl die allerwenigsten derjenigen be-
sitzen die jetzt kurzweg über unsern Charakter und unsere Verhältnisse
aburtheilen.

Vergesse man doch ja nicht daß Elsaß und Lothringen, obschon seit
zwei Jahrhunderten unter französischem Einfluß stehend, es dennoch ver-
mocht haben sehr vieles von ihrem deutschen Charakter zu wahren. Spräche
dieß nicht etwa zu ihren Gunsten? Läge darin nicht ein Beweis von
Energie, von Charakterstolz, von großer Lebensfähigkeit? Trotz der vielen
verderblichen Einflüsse, trotz der immer mehr rein französisch werdenden

Allgemeine Zeitung.
Nr. 72.
Augsburg, Montag, 13 März 1871.


Verlag der J. G. Cotta' schen Buchhandlung. Für die Redaction verantwortlich: Dr. J. v. Gosen.



Montags erscheint nur ein Blatt.

[Beginn Spaltensatz]
Uebersicht.

Zur moralischen Rückeroberung des Elsaßes. -- Das Französische im neuen
deutschen Reich. ( I. Schluß. )

Neueste Posten. München: Ordensverleihung. Audienzen.
Trauergottesdienst. Das Cultusministerium. Wilhelmshöhe:
Protest des Exkaisers. Bern: Die Rückkehr der internirten Franzosen.
Störung des deutschen Friedensfestes in Zürich. Aufhebung der Vieh-
sperre. Ueberbrückung des Rheins. Kriegsgericht. Zürich: Franzosen-
Putsch gegen eine deutsche Friedensfeier. London: Aus dem Unter-
haus. Bordeaux: Aus der Nationalversammlung. Rom: Graf
Tauffkirchen. -- Verschiedenes. -- Jndustrie, Handel und Verkehr.



Telegraphische Berichte.

* Berlin, 11 März. Die „Nordd. Allg. Ztg.“ erfährt: Die Auf-
stellung der Armee während der nächsten Occupationsphase ist derart ge-
ordnet, daß von der untern Seine, wo die erste Armee verbleibt, sich die
übrigen Armeen ununterbrochen aneinanderschließen bis Dijon hin, wo
die Linie durch die Südarmee geschlossen wird. Das zur Südarmee ge-
hörige vierzehnte Armeecorps wird nächstens aufgelöst, und dafür das
fünfte Armeecorps der Südarmee beigegeben. Das Centrum der Auf-
stellung bilden die Maasarmee, die dritte Armee, woran sich etwa beim
Einfluß der Aube in die Seine die zweite Armee anschließt. Es ist
bereits Befehl ertheilt die Landwehren sowohl aus dem Corpsverband
als aus den Garnisonen unverzüglich in die Heimath zu entlassen.
Die den an Deutschland abgetretenen Landestheilen angehörenden
Kriegsgefangenen, welche im bisherigen Jnternirungsort zu verbleiben wün-
schen, werden sofort in Freiheit gesetzt; diejenigen welche sich in die Hei-
math begeben wollen, sollen so behandelt werden wie auf Revers entlassene
Officiere. Diejenigen die in französischen Kriegsdiensten verbleiben wollen,
werden wie andere Kriegsgefangene lediglich nach Maßgabe des Friedens-
vertrags behandelt.

( * ) Berlin, 11 März. Dem Vernehmen nach ist die Demobili-
sirung der Garnisonsbataillone und interimistischen Besatzungstruppen,
sowie die Desarmirung der Festungen und Küstenbefestigungen bereits an-
geordnet. Es heißt: nach Durchführung der Demobilisirung der gesamm-
ten Armee werde beabsichtigt die ältesten Jahrgänge der Landwehr zum
Landsturm überzuführen.

( * ) Roubaix, 11 März. Die Arbeitseinstellung hat zugenommen.
Jm Arbeiterviertel finden Zusammenrottungen statt. Der Generalprocu-
rator ist angekommen. Mehrere Personen sind gerichtlich verurtheilt wor-
den. Man befürchtet Unruhen.

Weitere Telegramme siehe fünfte Seite.

Zur moralischen Rückeroberung des Elsaßes.

△ Straßburg, 4 März. Von der „moralischen Rückeroberung“
des Elsaßes ist jetzt in der deutschen Presse so vielfach die Rede, daß es
vielleicht von Jnteresse sein dürfte über diesen sehr wichtigen Gegenstand
eine Stimme aus dem Elsaß selbst zu vernehmen. Vorausschicken müssen
wir hiebei daß wir zu denjenigen Elsäßern gehören die sich von Herzen
darüber freuen daß Elsaß nun wiederum zu seiner ursprünglichen Stam-
mesart zurückkehrt und seinen deutschen Charakter wieder gewinnen soll,
welchen es sich durch eine mehr denn zweihundertjährige französische Herr-
schaft hindurch großentheils zu wahren gewußt hat. Diese Erklärung
möge uns zugleich zur Entschuldigung dienen wenn wir in folgendem
vielleicht manches werden sagen müssen was Fernstehenden auffallend oder
zu scharf erscheinen möchte. Jmmerhin wird jeder billig Denkende zu-
geben müssen daß in elsäßischen Angelegenheiten es allererst den Elsäßern
zusteht mitzureden und mitzuurtheilen.

Moralische Eroberungen sind, wie jedermann weiß, nicht immer so
leicht wie materielle Eroberungen. Nun hat Deutschland sieben Monate
eines furchtbaren Kriegs bedurft um Frankreich zwei Provinzen abzuringen
deren Einwohner in großer Mehrzahl nicht das geringste Gefallen dar-
an haben von Deutschland annectirt zu werden. Wer wollte unter
[Spaltenumbruch] solchen Umständen sich einbilden: es könnten, wie das Land, so auch die
Herzen von Elsaß=Lothringen binnen einigen Monaten oder nur innerhalb
eines oder zweier Jahre erobert werden? Geht doch jede moralische Er-
oberung langsam von statten, und sie will, wenn sie anders gedeihlich und
von Dauer sein soll, mit großer Schonung in Angriff genommen werden.
Ein Venetien möchte und soll auch hoffentlich Deutschland an Elsaß=Loth-
ringen nicht haben; darum gilt es auch jetzt den Weg nicht zu verfehlen
und die richtigen Maßregeln zu treffen.

Wenn wir nun zuvörderst von den materiellen Jnteressen reden, die
ja leider bei der Masse eines Volkes immer in erster Linie stehen, so müssen
wir sagen daß dieselben für unser Land sehr berücksichtigt zu werden scheinen.
Deutsche Zeitungen haben schon vielfach unsern Bauern die Vortheile an-
gepriesen die ihnen durch das deutsche Steuerwesen, durch die künftige
Selbstverwaltung der Gemeindegüter, durch freigewählte Municipalitäten
u. s. w. zufließen werden. Daß auch auf unsern Handel und die so bedeu-
tende Jndustrie des Elsaßes beim Friedensschluß gebührende Rücksicht ge-
nommen werden wird, dürfen wir ebenfalls, nach allem was bisher ver-
lautete, zuversichtlich hoffen. Bauern und Jndustrielle mögen sich also
wohlberechtigten guten Hoffnungen hingeben, und sie werden es um so
lieber thun als wir bisher, obschon unser Land nicht bloß besetzt, sondern
bereits in der Reorganisation begriffen ist, in materieller Beziehung gar
sehr wenig geschont wurden. Hatten wir doch, zufolge officiöser Nachrich-
ten aus Versailles, bis vor acht Tagen geglaubt wir würden ohne Kriegs-
steuern zu zahlen an Deutschland übergehen, da fiel uns plötzlich wie ein
Blitz aus heiterm Himmel die Kopfsteuer von 25 Francs zu! Welch schlim-
men Eindruck diese Maßregel auf unsere ganze Bevölkerung machte läßt
sich leicht errathen, und wir würden darüber uns sehr beklagen, wenn nicht
heute erst aus dem Hauptquartier die Nachricht eingetroffen wäre daß
fortan keinerlei Contributionen mehr bei uns sollen erhoben werden, was
natürlich die Aufhebung auch dieser Kopfsteuer bedeutet. Daß aber Elsaß-
Lothringen bisher nicht geschont worden, das bezeugte neulich selbst ein Corre-
spondent der „Allg. Z.,“ der offen erklärte: „Wir haben eben bisher noch
nichts gethan um den Elsäßern zu zeigen daß uns an ihnen etwas gelegen
sei.“ Wie viel materiellen Gewinn unser Land durch seinen Uebergang
an Deutschland davon tragen wird, darüber wird uns die nächste Zukunft
belehren.

Fassen wir nun weiter den moralischen und socialen Charakter unsres
Volkslebens ins Auge, und fragen wir: Wie soll auf diesem Gebiete die
„moralische Rückeroberung“ zu Stande kommen? Vorschläge genug die
hierüber bis jetzt zu Tage gefördert worden, wären hier des längern zu
erörtern; wir wollen uns jedoch für heut auf einige Bemerkungen beschrän-
ken. Und zwar müssen wir vor allen Dingen aussprechen wie schmerzlich
es uns berührt hat zu sehen daß manche deutsche Blätter den moralischen
und socialen Charakter der Elsäßer so tief herabgesetzt haben. Dieß konnte
nur geschehen entweder aus Unkenntniß -- aber dann hätte man sich erst
eines bessern belehren sollen -- oder aus besonderer Absicht; man habe
es nämlich, wie etliche meinen, darauf abgesehen überall recht viele Schä-
den und Mäkel herauszufinden, um dem gegenüber die Vorzüge des deut-
schen Charakters und des deutschen Volkslebens um so höher zu erheben;
aber solches Verfahren würde weder von politischer Klugheit zeugen, noch
wäre es ein moralisch zu rechtfertigendes. Es ist eben keine leichte Sache
einen nationalen Charakter zu kennen und zu beurtheilen, dazu gehört eine
lange vieljährige Erfahrung, welche wohl die allerwenigsten derjenigen be-
sitzen die jetzt kurzweg über unsern Charakter und unsere Verhältnisse
aburtheilen.

Vergesse man doch ja nicht daß Elsaß und Lothringen, obschon seit
zwei Jahrhunderten unter französischem Einfluß stehend, es dennoch ver-
mocht haben sehr vieles von ihrem deutschen Charakter zu wahren. Spräche
dieß nicht etwa zu ihren Gunsten? Läge darin nicht ein Beweis von
Energie, von Charakterstolz, von großer Lebensfähigkeit? Trotz der vielen
verderblichen Einflüsse, trotz der immer mehr rein französisch werdenden

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[0001] Allgemeine Zeitung. Nr. 72. Augsburg, Montag, 13 März 1871. Verlag der J. G. Cotta' schen Buchhandlung. Für die Redaction verantwortlich: Dr. J. v. Gosen. ☞ Montags erscheint nur ein Blatt. Uebersicht. Zur moralischen Rückeroberung des Elsaßes. -- Das Französische im neuen deutschen Reich. ( I. Schluß. ) Neueste Posten. München: Ordensverleihung. Audienzen. Trauergottesdienst. Das Cultusministerium. Wilhelmshöhe: Protest des Exkaisers. Bern: Die Rückkehr der internirten Franzosen. Störung des deutschen Friedensfestes in Zürich. Aufhebung der Vieh- sperre. Ueberbrückung des Rheins. Kriegsgericht. Zürich: Franzosen- Putsch gegen eine deutsche Friedensfeier. London: Aus dem Unter- haus. Bordeaux: Aus der Nationalversammlung. Rom: Graf Tauffkirchen. -- Verschiedenes. -- Jndustrie, Handel und Verkehr. Telegraphische Berichte. * Berlin, 11 März. Die „Nordd. Allg. Ztg.“ erfährt: Die Auf- stellung der Armee während der nächsten Occupationsphase ist derart ge- ordnet, daß von der untern Seine, wo die erste Armee verbleibt, sich die übrigen Armeen ununterbrochen aneinanderschließen bis Dijon hin, wo die Linie durch die Südarmee geschlossen wird. Das zur Südarmee ge- hörige vierzehnte Armeecorps wird nächstens aufgelöst, und dafür das fünfte Armeecorps der Südarmee beigegeben. Das Centrum der Auf- stellung bilden die Maasarmee, die dritte Armee, woran sich etwa beim Einfluß der Aube in die Seine die zweite Armee anschließt. Es ist bereits Befehl ertheilt die Landwehren sowohl aus dem Corpsverband als aus den Garnisonen unverzüglich in die Heimath zu entlassen. Die den an Deutschland abgetretenen Landestheilen angehörenden Kriegsgefangenen, welche im bisherigen Jnternirungsort zu verbleiben wün- schen, werden sofort in Freiheit gesetzt; diejenigen welche sich in die Hei- math begeben wollen, sollen so behandelt werden wie auf Revers entlassene Officiere. Diejenigen die in französischen Kriegsdiensten verbleiben wollen, werden wie andere Kriegsgefangene lediglich nach Maßgabe des Friedens- vertrags behandelt. ( * ) Berlin, 11 März. Dem Vernehmen nach ist die Demobili- sirung der Garnisonsbataillone und interimistischen Besatzungstruppen, sowie die Desarmirung der Festungen und Küstenbefestigungen bereits an- geordnet. Es heißt: nach Durchführung der Demobilisirung der gesamm- ten Armee werde beabsichtigt die ältesten Jahrgänge der Landwehr zum Landsturm überzuführen. ( * ) Roubaix, 11 März. Die Arbeitseinstellung hat zugenommen. Jm Arbeiterviertel finden Zusammenrottungen statt. Der Generalprocu- rator ist angekommen. Mehrere Personen sind gerichtlich verurtheilt wor- den. Man befürchtet Unruhen. Weitere Telegramme siehe fünfte Seite. Zur moralischen Rückeroberung des Elsaßes. △ Straßburg, 4 März. Von der „moralischen Rückeroberung“ des Elsaßes ist jetzt in der deutschen Presse so vielfach die Rede, daß es vielleicht von Jnteresse sein dürfte über diesen sehr wichtigen Gegenstand eine Stimme aus dem Elsaß selbst zu vernehmen. Vorausschicken müssen wir hiebei daß wir zu denjenigen Elsäßern gehören die sich von Herzen darüber freuen daß Elsaß nun wiederum zu seiner ursprünglichen Stam- mesart zurückkehrt und seinen deutschen Charakter wieder gewinnen soll, welchen es sich durch eine mehr denn zweihundertjährige französische Herr- schaft hindurch großentheils zu wahren gewußt hat. Diese Erklärung möge uns zugleich zur Entschuldigung dienen wenn wir in folgendem vielleicht manches werden sagen müssen was Fernstehenden auffallend oder zu scharf erscheinen möchte. Jmmerhin wird jeder billig Denkende zu- geben müssen daß in elsäßischen Angelegenheiten es allererst den Elsäßern zusteht mitzureden und mitzuurtheilen. Moralische Eroberungen sind, wie jedermann weiß, nicht immer so leicht wie materielle Eroberungen. Nun hat Deutschland sieben Monate eines furchtbaren Kriegs bedurft um Frankreich zwei Provinzen abzuringen deren Einwohner in großer Mehrzahl nicht das geringste Gefallen dar- an haben von Deutschland annectirt zu werden. Wer wollte unter solchen Umständen sich einbilden: es könnten, wie das Land, so auch die Herzen von Elsaß=Lothringen binnen einigen Monaten oder nur innerhalb eines oder zweier Jahre erobert werden? Geht doch jede moralische Er- oberung langsam von statten, und sie will, wenn sie anders gedeihlich und von Dauer sein soll, mit großer Schonung in Angriff genommen werden. Ein Venetien möchte und soll auch hoffentlich Deutschland an Elsaß=Loth- ringen nicht haben; darum gilt es auch jetzt den Weg nicht zu verfehlen und die richtigen Maßregeln zu treffen. Wenn wir nun zuvörderst von den materiellen Jnteressen reden, die ja leider bei der Masse eines Volkes immer in erster Linie stehen, so müssen wir sagen daß dieselben für unser Land sehr berücksichtigt zu werden scheinen. Deutsche Zeitungen haben schon vielfach unsern Bauern die Vortheile an- gepriesen die ihnen durch das deutsche Steuerwesen, durch die künftige Selbstverwaltung der Gemeindegüter, durch freigewählte Municipalitäten u. s. w. zufließen werden. Daß auch auf unsern Handel und die so bedeu- tende Jndustrie des Elsaßes beim Friedensschluß gebührende Rücksicht ge- nommen werden wird, dürfen wir ebenfalls, nach allem was bisher ver- lautete, zuversichtlich hoffen. Bauern und Jndustrielle mögen sich also wohlberechtigten guten Hoffnungen hingeben, und sie werden es um so lieber thun als wir bisher, obschon unser Land nicht bloß besetzt, sondern bereits in der Reorganisation begriffen ist, in materieller Beziehung gar sehr wenig geschont wurden. Hatten wir doch, zufolge officiöser Nachrich- ten aus Versailles, bis vor acht Tagen geglaubt wir würden ohne Kriegs- steuern zu zahlen an Deutschland übergehen, da fiel uns plötzlich wie ein Blitz aus heiterm Himmel die Kopfsteuer von 25 Francs zu! Welch schlim- men Eindruck diese Maßregel auf unsere ganze Bevölkerung machte läßt sich leicht errathen, und wir würden darüber uns sehr beklagen, wenn nicht heute erst aus dem Hauptquartier die Nachricht eingetroffen wäre daß fortan keinerlei Contributionen mehr bei uns sollen erhoben werden, was natürlich die Aufhebung auch dieser Kopfsteuer bedeutet. Daß aber Elsaß- Lothringen bisher nicht geschont worden, das bezeugte neulich selbst ein Corre- spondent der „Allg. Z.,“ der offen erklärte: „Wir haben eben bisher noch nichts gethan um den Elsäßern zu zeigen daß uns an ihnen etwas gelegen sei.“ Wie viel materiellen Gewinn unser Land durch seinen Uebergang an Deutschland davon tragen wird, darüber wird uns die nächste Zukunft belehren. Fassen wir nun weiter den moralischen und socialen Charakter unsres Volkslebens ins Auge, und fragen wir: Wie soll auf diesem Gebiete die „moralische Rückeroberung“ zu Stande kommen? Vorschläge genug die hierüber bis jetzt zu Tage gefördert worden, wären hier des längern zu erörtern; wir wollen uns jedoch für heut auf einige Bemerkungen beschrän- ken. Und zwar müssen wir vor allen Dingen aussprechen wie schmerzlich es uns berührt hat zu sehen daß manche deutsche Blätter den moralischen und socialen Charakter der Elsäßer so tief herabgesetzt haben. Dieß konnte nur geschehen entweder aus Unkenntniß -- aber dann hätte man sich erst eines bessern belehren sollen -- oder aus besonderer Absicht; man habe es nämlich, wie etliche meinen, darauf abgesehen überall recht viele Schä- den und Mäkel herauszufinden, um dem gegenüber die Vorzüge des deut- schen Charakters und des deutschen Volkslebens um so höher zu erheben; aber solches Verfahren würde weder von politischer Klugheit zeugen, noch wäre es ein moralisch zu rechtfertigendes. Es ist eben keine leichte Sache einen nationalen Charakter zu kennen und zu beurtheilen, dazu gehört eine lange vieljährige Erfahrung, welche wohl die allerwenigsten derjenigen be- sitzen die jetzt kurzweg über unsern Charakter und unsere Verhältnisse aburtheilen. Vergesse man doch ja nicht daß Elsaß und Lothringen, obschon seit zwei Jahrhunderten unter französischem Einfluß stehend, es dennoch ver- mocht haben sehr vieles von ihrem deutschen Charakter zu wahren. Spräche dieß nicht etwa zu ihren Gunsten? Läge darin nicht ein Beweis von Energie, von Charakterstolz, von großer Lebensfähigkeit? Trotz der vielen verderblichen Einflüsse, trotz der immer mehr rein französisch werdenden

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  • rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert.
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert.
  • Vollständigkeit: vollständig erfasst.
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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 72. Augsburg (Bayern), 13. März 1871, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_augsburg72_1871/1>, abgerufen am 18.04.2024.