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[N. N.]: Von der Ode. In: Vermischte Beyträge zur Philosophie und den schönen Wissenschaften, 2,1 (1763), S. 152–177.

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daß dergleichen Kunstrichter nicht sagen würden: eine Epopee sey ein Gedicht in Hexametern geschrieben. Doch wir wollen diese Herren verlassen, welche sich nicht weiter, als bis zum Sylbenmaaße eines Gedichtes geschwungen, und selbst das Wesen der Ode untersuchen*).

Das Wesen der Ode.

Laßt uns einmal eine wahre Ode unserm Freunde zum Beurtheilen vorlegen, den die Natur zum schönen Geiste gebildet hat. Es mag Hallers Doris oder die Ewigkeit seyn. Was wird er wohl sagen? ohnstreitig: die Ode ist schön; wenn wir ihn aber fragen, warum er sie schön nennet, so wird er uns antworten: deswegen, weil sie rührt, und uns noch einen nähern Grund davon angeben, weil sie empfindungsvoll ist. Alle diejenigen, welche mit Geschmack die Doris, die Ewigkeit, oder auch den Pindar, Horaz und Anakreon gelesen, werden mit diesem Urtheile übereinstimmen. Also ist die eigentliche Wirkung der Ode, die sie in der Seele eines jeden, der fähig ist, die Schönheiten der Gedichte zu empfinden, zurückläßt, - die Rührung. Der Grund von dieser Veränderung der Seele liegt also in der Ode. Es muß folglich in derselben eine Menge von Bildern enthalten seyn, welche Abdrücke von starken und lebhaften Empfindungen sind. Diese Empfindungen, wenn sie sich in einen Punkt vereinigen, welches die Hauptempfindung ist, verursachen eine gewisse Veränderung in der Seele, welche der Affekt genennet wird. Sie müssen sich aber vereinigen, denn sonst wäre es wider die eigenthümliche Schönheit des Gedichts. Da nun die Empfindungen einfach oder zusammengesetzt, rein oder vermischt, lebhaft, stark, erhaben

*) Wir wünschten, daß durch diesen Versuch der Verfasser der philosophischen Schriften angereizt werden möchte, seine vortreffliche Abhandlung von der Ode bekannt zu machen.

daß dergleichen Kunstrichter nicht sagen würden: eine Epopee sey ein Gedicht in Hexametern geschrieben. Doch wir wollen diese Herren verlassen, welche sich nicht weiter, als bis zum Sylbenmaaße eines Gedichtes geschwungen, und selbst das Wesen der Ode untersuchen*).

Das Wesen der Ode.

Laßt uns einmal eine wahre Ode unserm Freunde zum Beurtheilen vorlegen, den die Natur zum schönen Geiste gebildet hat. Es mag Hallers Doris oder die Ewigkeit seyn. Was wird er wohl sagen? ohnstreitig: die Ode ist schön; wenn wir ihn aber fragen, warum er sie schön nennet, so wird er uns antworten: deswegen, weil sie rührt, und uns noch einen nähern Grund davon angeben, weil sie empfindungsvoll ist. Alle diejenigen, welche mit Geschmack die Doris, die Ewigkeit, oder auch den Pindar, Horaz und Anakreon gelesen, werden mit diesem Urtheile übereinstimmen. Also ist die eigentliche Wirkung der Ode, die sie in der Seele eines jeden, der fähig ist, die Schönheiten der Gedichte zu empfinden, zurückläßt, – die Rührung. Der Grund von dieser Veränderung der Seele liegt also in der Ode. Es muß folglich in derselben eine Menge von Bildern enthalten seyn, welche Abdrücke von starken und lebhaften Empfindungen sind. Diese Empfindungen, wenn sie sich in einen Punkt vereinigen, welches die Hauptempfindung ist, verursachen eine gewisse Veränderung in der Seele, welche der Affekt genennet wird. Sie müssen sich aber vereinigen, denn sonst wäre es wider die eigenthümliche Schönheit des Gedichts. Da nun die Empfindungen einfach oder zusammengesetzt, rein oder vermischt, lebhaft, stark, erhaben

*) Wir wünschten, daß durch diesen Versuch der Verfasser der philosophischen Schriften angereizt werden möchte, seine vortreffliche Abhandlung von der Ode bekannt zu machen.
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[155/0005] daß dergleichen Kunstrichter nicht sagen würden: eine Epopee sey ein Gedicht in Hexametern geschrieben. Doch wir wollen diese Herren verlassen, welche sich nicht weiter, als bis zum Sylbenmaaße eines Gedichtes geschwungen, und selbst das Wesen der Ode untersuchen *). Das Wesen der Ode. Laßt uns einmal eine wahre Ode unserm Freunde zum Beurtheilen vorlegen, den die Natur zum schönen Geiste gebildet hat. Es mag Hallers Doris oder die Ewigkeit seyn. Was wird er wohl sagen? ohnstreitig: die Ode ist schön; wenn wir ihn aber fragen, warum er sie schön nennet, so wird er uns antworten: deswegen, weil sie rührt, und uns noch einen nähern Grund davon angeben, weil sie empfindungsvoll ist. Alle diejenigen, welche mit Geschmack die Doris, die Ewigkeit, oder auch den Pindar, Horaz und Anakreon gelesen, werden mit diesem Urtheile übereinstimmen. Also ist die eigentliche Wirkung der Ode, die sie in der Seele eines jeden, der fähig ist, die Schönheiten der Gedichte zu empfinden, zurückläßt, – die Rührung. Der Grund von dieser Veränderung der Seele liegt also in der Ode. Es muß folglich in derselben eine Menge von Bildern enthalten seyn, welche Abdrücke von starken und lebhaften Empfindungen sind. Diese Empfindungen, wenn sie sich in einen Punkt vereinigen, welches die Hauptempfindung ist, verursachen eine gewisse Veränderung in der Seele, welche der Affekt genennet wird. Sie müssen sich aber vereinigen, denn sonst wäre es wider die eigenthümliche Schönheit des Gedichts. Da nun die Empfindungen einfach oder zusammengesetzt, rein oder vermischt, lebhaft, stark, erhaben *) Wir wünschten, daß durch diesen Versuch der Verfasser der philosophischen Schriften angereizt werden möchte, seine vortreffliche Abhandlung von der Ode bekannt zu machen.

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Zitationshilfe: [N. N.]: Von der Ode. In: Vermischte Beyträge zur Philosophie und den schönen Wissenschaften, 2,1 (1763), S. 152–177, hier S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_ode_1763/5>, abgerufen am 23.04.2024.