Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802.

Bild:
<< vorherige Seite

den Blättern berührte. Rund um sie her
standen unzählige Blumen von allen Farben,
und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft.
Er sah nichts als die blaue Blume, und be¬
trachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlich¬
keit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als
sie auf einmal sich zu bewegen und zu ver¬
ändern anfing; die Blätter wurden glän¬
zender und schmiegten sich an den wachsen¬
den Stengel, die Blume neigte sich nach
ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten ei¬
nen blauen ausgebreiteten Kragen, in wel¬
chem ein zartes Gesicht schwebte. Sein sü¬
ßes Staunen wuchs mit der sonderbaren
Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme
seiner Mutter weckte, und er sich in der el¬
terlichen Stube fand, die schon die Morgen¬
sonne vergoldete. Er war zu entzückt, um
unwillig über diese Störung zu seyn; vielmehr
bot er seiner Mutter freundlich guten Mor¬
gen und erwiederte ihre herzliche Umarmung.

den Blättern berührte. Rund um ſie her
ſtanden unzählige Blumen von allen Farben,
und der köſtlichſte Geruch erfüllte die Luft.
Er ſah nichts als die blaue Blume, und be¬
trachtete ſie lange mit unnennbarer Zärtlich¬
keit. Endlich wollte er ſich ihr nähern, als
ſie auf einmal ſich zu bewegen und zu ver¬
ändern anfing; die Blätter wurden glän¬
zender und ſchmiegten ſich an den wachſen¬
den Stengel, die Blume neigte ſich nach
ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten ei¬
nen blauen ausgebreiteten Kragen, in wel¬
chem ein zartes Geſicht ſchwebte. Sein ſü¬
ßes Staunen wuchs mit der ſonderbaren
Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme
ſeiner Mutter weckte, und er ſich in der el¬
terlichen Stube fand, die ſchon die Morgen¬
ſonne vergoldete. Er war zu entzückt, um
unwillig über dieſe Störung zu ſeyn; vielmehr
bot er ſeiner Mutter freundlich guten Mor¬
gen und erwiederte ihre herzliche Umarmung.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0022" n="14"/>
den Blättern berührte. Rund um &#x017F;ie her<lb/>
&#x017F;tanden unzählige Blumen von allen Farben,<lb/>
und der kö&#x017F;tlich&#x017F;te Geruch erfüllte die Luft.<lb/>
Er &#x017F;ah nichts als die blaue Blume, und be¬<lb/>
trachtete &#x017F;ie lange mit unnennbarer Zärtlich¬<lb/>
keit. Endlich wollte er &#x017F;ich ihr nähern, als<lb/>
&#x017F;ie auf einmal &#x017F;ich zu bewegen und zu ver¬<lb/>
ändern anfing; die Blätter wurden glän¬<lb/>
zender und &#x017F;chmiegten &#x017F;ich an den wach&#x017F;en¬<lb/>
den Stengel, die Blume neigte &#x017F;ich nach<lb/>
ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten ei¬<lb/>
nen blauen ausgebreiteten Kragen, in wel¬<lb/>
chem ein zartes Ge&#x017F;icht &#x017F;chwebte. Sein &#x017F;ü¬<lb/>
ßes Staunen wuchs mit der &#x017F;onderbaren<lb/>
Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme<lb/>
&#x017F;einer Mutter weckte, und er &#x017F;ich in der el¬<lb/>
terlichen Stube fand, die &#x017F;chon die Morgen¬<lb/>
&#x017F;onne vergoldete. Er war zu entzückt, um<lb/>
unwillig über die&#x017F;e Störung zu &#x017F;eyn; vielmehr<lb/>
bot er &#x017F;einer Mutter freundlich guten Mor¬<lb/>
gen und erwiederte ihre herzliche Umarmung.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0022] den Blättern berührte. Rund um ſie her ſtanden unzählige Blumen von allen Farben, und der köſtlichſte Geruch erfüllte die Luft. Er ſah nichts als die blaue Blume, und be¬ trachtete ſie lange mit unnennbarer Zärtlich¬ keit. Endlich wollte er ſich ihr nähern, als ſie auf einmal ſich zu bewegen und zu ver¬ ändern anfing; die Blätter wurden glän¬ zender und ſchmiegten ſich an den wachſen¬ den Stengel, die Blume neigte ſich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten ei¬ nen blauen ausgebreiteten Kragen, in wel¬ chem ein zartes Geſicht ſchwebte. Sein ſü¬ ßes Staunen wuchs mit der ſonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme ſeiner Mutter weckte, und er ſich in der el¬ terlichen Stube fand, die ſchon die Morgen¬ ſonne vergoldete. Er war zu entzückt, um unwillig über dieſe Störung zu ſeyn; vielmehr bot er ſeiner Mutter freundlich guten Mor¬ gen und erwiederte ihre herzliche Umarmung.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802/22
Zitationshilfe: Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802/22>, abgerufen am 29.03.2024.