Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Panizza, Oskar: Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlichkeit. Leipzig, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

der Naturwissenschaft und der biologischen Disziplinen. Und hier im speziellen Fall ist der Ausgangspunkt die Psichiatrie, das patologische Denken, das kranke Sensorium, die psichologische Selbst-Beobachtung. Und was die politische Maxime anlangt, die sich in solche Darlegungen ohne unser Zutun einschleicht, so wird sie Der, der Augen hat zu sehen, schon finden.

Noch ein Wort über die "Naturwissenschaft", unter deren ausschliesslichen und nüchternen Bann, man kann sagen, alles moderne Denken seit bald einem halben Jahrhundert steht. Diese schneidige Kämpferin und stolze Siegerin, die in den Fünfziger Jahren ihrem Widerpart, der "Naturfilosofie", mit glattem Hieb den Kopf vom Rumpfe trente, sie weiss heute sehr gut, dass es mit ihrer Herrschaft dem Ende zugeht, und dass, wenigstens was die Geisteswissenschaft anlangt, es mit ihrer Göttlichkeit gründlich vorbei ist; und die deutsche Spekulazion wieder in ihre Rechte tritt. Nicht nur die Büchner, Vogt und Moleschott sind heute Makulatur - das wolte wenig besagen - auch die neueren und neuesten Erklärer des "menslichen Cheistes", wie jener Westfale sagte, dürfen getrost ihre Erzeugnisse auf Holzpapier druken, um ihren mutigen Verlegern nicht allzuviel Kosten zu verursachen. Man muss sie hören die Herrn von den lezten materjalistischen Funden, die Wundt, Herzen, Münsterberg u. a., man muss sie gedrukt lesen und die verzweifelten Purzelbäume beobachten, wenn sie schreiben, dass "keine bewusste Vorstellung ohne begleitende Muskelbewegung" zu Stande komt, dass "Raum- und Zeit-Anschauung nichts weiter als Empfindungs-Unterschiede von Muskelspannungen" sind; oder, dass "Ideen aus Gruppen und Reihen von Muskelzusammenziehungen bestehen" (Herzen, A., Grundlinien einer allgem. Psychophysiologie. Leipzig, 1889, p. 11). Man muss sie beobachten, wenn sie, um die Materjalisirung des Denkens um jeden Preis zu retten, eine ihrer kostbarsten Errungenschaften wissenschaftlicher Empirie, das Gesez der Erhaltung der Energie, preisgeben, und sogar den Grundpfeiler jedes wissenschaftlichen Gebäudes, das psichisches oder fisisches Dasein konstruiren will, das Kausalgesez, zu unterwühlen und zu lokern suchen: Bis sie auf dem Gerüst auf dem sie ihre gewagten

der Naturwissenschaft und der biologischen Disziplinen. Und hier im speziellen Fall ist der Ausgangspunkt die Psichiatrie, das patologische Denken, das kranke Sensorium, die psichologische Selbst-Beobachtung. Und was die politische Maxime anlangt, die sich in solche Darlegungen ohne unser Zutun einschleicht, so wird sie Der, der Augen hat zu sehen, schon finden.

Noch ein Wort über die „Naturwissenschaft“, unter deren ausschliesslichen und nüchternen Bann, man kann sagen, alles moderne Denken seit bald einem halben Jahrhundert steht. Diese schneidige Kämpferin und stolze Siegerin, die in den Fünfziger Jahren ihrem Widerpart, der „Naturfilosofie“, mit glattem Hieb den Kopf vom Rumpfe trente, sie weiss heute sehr gut, dass es mit ihrer Herrschaft dem Ende zugeht, und dass, wenigstens was die Geisteswissenschaft anlangt, es mit ihrer Göttlichkeit gründlich vorbei ist; und die deutsche Spekulazion wieder in ihre Rechte tritt. Nicht nur die Büchner, Vogt und Moleschott sind heute Makulatur – das wolte wenig besagen – auch die neueren und neuesten Erklärer des „menslichen Cheistes“, wie jener Westfale sagte, dürfen getrost ihre Erzeugnisse auf Holzpapier druken, um ihren mutigen Verlegern nicht allzuviel Kosten zu verursachen. Man muss sie hören die Herrn von den lezten materjalistischen Funden, die Wundt, Herzen, Münsterberg u. a., man muss sie gedrukt lesen und die verzweifelten Purzelbäume beobachten, wenn sie schreiben, dass „keine bewusste Vorstellung ohne begleitende Muskelbewegung“ zu Stande komt, dass „Raum- und Zeit-Anschauung nichts weiter als Empfindungs-Unterschiede von Muskelspannungen“ sind; oder, dass „Ideen aus Gruppen und Reihen von Muskelzusammenziehungen bestehen“ (Herzen, A., Grundlinien einer allgem. Psychophysiologie. Leipzig, 1889, p. 11). Man muss sie beobachten, wenn sie, um die Materjalisirung des Denkens um jeden Preis zu retten, eine ihrer kostbarsten Errungenschaften wissenschaftlicher Empirie, das Gesez der Erhaltung der Energie, preisgeben, und sogar den Grundpfeiler jedes wissenschaftlichen Gebäudes, das psichisches oder fisisches Dasein konstruiren will, das Kausalgesez, zu unterwühlen und zu lokern suchen: Bis sie auf dem Gerüst auf dem sie ihre gewagten

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div type="preface" n="1">
        <p><pb facs="#f0008" n="6"/>
der Naturwissenschaft und der biologischen Disziplinen. Und hier im speziellen Fall ist der Ausgangspunkt die <hi rendition="#g">Psichiatrie</hi>, das <hi rendition="#g">patologische</hi> Denken, das <hi rendition="#g">kranke Sensorium</hi>, die <hi rendition="#g">psichologische Selbst-Beobachtung</hi>. Und was die politische Maxime anlangt, die sich in solche Darlegungen ohne unser Zutun einschleicht, so wird sie Der, der Augen hat zu sehen, schon finden.</p>
        <p>Noch ein Wort über die &#x201E;Naturwissenschaft&#x201C;, unter deren ausschliesslichen und nüchternen Bann, man kann sagen, alles moderne Denken seit bald einem halben Jahrhundert steht. Diese schneidige Kämpferin und stolze Siegerin, die in den Fünfziger Jahren ihrem Widerpart, der &#x201E;Naturfilosofie&#x201C;, mit glattem Hieb den Kopf vom Rumpfe trente, sie weiss heute sehr gut, dass es mit ihrer Herrschaft dem Ende zugeht, und dass, wenigstens was die Geisteswissenschaft anlangt, es mit ihrer Göttlichkeit gründlich vorbei ist; und die deutsche Spekulazion wieder in ihre Rechte tritt. Nicht nur die <hi rendition="#g">Büchner</hi>, <hi rendition="#g">Vogt</hi> und <hi rendition="#g">Moleschott</hi> sind heute Makulatur &#x2013; das wolte wenig besagen &#x2013; auch die neueren und neuesten Erklärer des &#x201E;menslichen Cheistes&#x201C;, wie jener Westfale sagte, dürfen getrost ihre Erzeugnisse auf Holzpapier druken, um ihren mutigen Verlegern nicht allzuviel Kosten zu verursachen. Man muss sie hören die Herrn von den lezten materjalistischen Funden, die <hi rendition="#g">Wundt</hi>, <hi rendition="#g">Herzen</hi>, <hi rendition="#g">Münsterberg</hi> u. a., man muss sie gedrukt lesen und die verzweifelten Purzelbäume beobachten, wenn sie schreiben, dass &#x201E;keine bewusste Vorstellung ohne begleitende Muskelbewegung&#x201C; zu Stande komt, dass &#x201E;Raum- und Zeit-Anschauung nichts weiter als Empfindungs-Unterschiede von Muskelspannungen&#x201C; sind; oder, dass &#x201E;<hi rendition="#g">Ideen</hi> aus Gruppen und Reihen von Muskelzusammenziehungen bestehen&#x201C; (<hi rendition="#g">Herzen</hi>, A., Grundlinien einer allgem. Psychophysiologie. Leipzig, 1889, p. 11). Man muss sie beobachten, wenn sie, um die Materjalisirung des Denkens um jeden Preis zu retten, eine ihrer kostbarsten Errungenschaften wissenschaftlicher Empirie, das Gesez der Erhaltung der Energie, preisgeben, und sogar den Grundpfeiler jedes wissenschaftlichen Gebäudes, das psichisches oder fisisches Dasein konstruiren will, das Kausalgesez, zu unterwühlen und zu lokern suchen: Bis sie auf dem Gerüst auf dem sie ihre gewagten
</p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[6/0008] der Naturwissenschaft und der biologischen Disziplinen. Und hier im speziellen Fall ist der Ausgangspunkt die Psichiatrie, das patologische Denken, das kranke Sensorium, die psichologische Selbst-Beobachtung. Und was die politische Maxime anlangt, die sich in solche Darlegungen ohne unser Zutun einschleicht, so wird sie Der, der Augen hat zu sehen, schon finden. Noch ein Wort über die „Naturwissenschaft“, unter deren ausschliesslichen und nüchternen Bann, man kann sagen, alles moderne Denken seit bald einem halben Jahrhundert steht. Diese schneidige Kämpferin und stolze Siegerin, die in den Fünfziger Jahren ihrem Widerpart, der „Naturfilosofie“, mit glattem Hieb den Kopf vom Rumpfe trente, sie weiss heute sehr gut, dass es mit ihrer Herrschaft dem Ende zugeht, und dass, wenigstens was die Geisteswissenschaft anlangt, es mit ihrer Göttlichkeit gründlich vorbei ist; und die deutsche Spekulazion wieder in ihre Rechte tritt. Nicht nur die Büchner, Vogt und Moleschott sind heute Makulatur – das wolte wenig besagen – auch die neueren und neuesten Erklärer des „menslichen Cheistes“, wie jener Westfale sagte, dürfen getrost ihre Erzeugnisse auf Holzpapier druken, um ihren mutigen Verlegern nicht allzuviel Kosten zu verursachen. Man muss sie hören die Herrn von den lezten materjalistischen Funden, die Wundt, Herzen, Münsterberg u. a., man muss sie gedrukt lesen und die verzweifelten Purzelbäume beobachten, wenn sie schreiben, dass „keine bewusste Vorstellung ohne begleitende Muskelbewegung“ zu Stande komt, dass „Raum- und Zeit-Anschauung nichts weiter als Empfindungs-Unterschiede von Muskelspannungen“ sind; oder, dass „Ideen aus Gruppen und Reihen von Muskelzusammenziehungen bestehen“ (Herzen, A., Grundlinien einer allgem. Psychophysiologie. Leipzig, 1889, p. 11). Man muss sie beobachten, wenn sie, um die Materjalisirung des Denkens um jeden Preis zu retten, eine ihrer kostbarsten Errungenschaften wissenschaftlicher Empirie, das Gesez der Erhaltung der Energie, preisgeben, und sogar den Grundpfeiler jedes wissenschaftlichen Gebäudes, das psichisches oder fisisches Dasein konstruiren will, das Kausalgesez, zu unterwühlen und zu lokern suchen: Bis sie auf dem Gerüst auf dem sie ihre gewagten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2013-04-29T10:04:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-04-29T10:04:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-04-29T10:04:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/panizza_illusionismus_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/panizza_illusionismus_1895/8
Zitationshilfe: Panizza, Oskar: Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlichkeit. Leipzig, 1895, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/panizza_illusionismus_1895/8>, abgerufen am 28.03.2024.