Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite

breitete. "In dieser Minute gehen wir aus dem
"Grab in den Himmel" -- sagte der tiefgerührte
Genius, da oben eine Flöte (als Zeichen der auf¬
gesperrten Thüren) anfieng, sie mit sanfter Stim¬
me aus dem Grabe zu rufen. Der Kleine bebte
vor Freude und Angst. Die Flöte rufet fort, --
sie gehen den Todesgang der Himmelsleiter hinauf,
-- ihre zwei ängstlichen Herzen zerbrechen mit
ihren Schlägen beinahe die Brust -- der Ge¬
nius stößet die Pforte auf, hinter der die Welt
war -- und hebt seinen Freund in die Erde und
unter dem Himmel hinaus . . . . . . Nun schlagen
die hohen Wogen des lebendigen Meers über ihn
zusammen -- mit stockendem Athem, mit erdrücktem
Auge, mit überschütteter Seele steht er vor dem un¬
übersehlichen Angesicht der Natur und hält sich zit¬
ternd fester an seinen Genius -- als er aber nach
dem ersten Erstarren seinen Geist weit aufgeschlossen
hatte für diese Ströme -- als er die tausend Arme
fühlte, womit ihn die hohe Seele des Weltalls an
den Busen drückte -- als er zu sehen vermochte das
grüne taumelnde Blumenleben um sich und die ni¬
ckenden Lilien, die lebendiger ihm schienen als seine,
und als er die zitternde Blume todt zu treten fürch¬

breitete. „In dieſer Minute gehen wir aus dem
„Grab in den Himmel“ — ſagte der tiefgeruͤhrte
Genius, da oben eine Floͤte (als Zeichen der auf¬
geſperrten Thuͤren) anfieng, ſie mit ſanfter Stim¬
me aus dem Grabe zu rufen. Der Kleine bebte
vor Freude und Angſt. Die Floͤte rufet fort, —
ſie gehen den Todesgang der Himmelsleiter hinauf,
— ihre zwei aͤngſtlichen Herzen zerbrechen mit
ihren Schlaͤgen beinahe die Bruſt — der Ge¬
nius ſtoͤßet die Pforte auf, hinter der die Welt
war — und hebt ſeinen Freund in die Erde und
unter dem Himmel hinaus . . . . . . Nun ſchlagen
die hohen Wogen des lebendigen Meers uͤber ihn
zuſammen — mit ſtockendem Athem, mit erdruͤcktem
Auge, mit uͤberſchuͤtteter Seele ſteht er vor dem un¬
uͤberſehlichen Angeſicht der Natur und haͤlt ſich zit¬
ternd feſter an ſeinen Genius — als er aber nach
dem erſten Erſtarren ſeinen Geiſt weit aufgeſchloſſen
hatte fuͤr dieſe Stroͤme — als er die tauſend Arme
fuͤhlte, womit ihn die hohe Seele des Weltalls an
den Buſen druͤckte — als er zu ſehen vermochte das
gruͤne taumelnde Blumenleben um ſich und die ni¬
ckenden Lilien, die lebendiger ihm ſchienen als ſeine,
und als er die zitternde Blume todt zu treten fuͤrch¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0094" n="58"/>
breitete. &#x201E;In die&#x017F;er Minute gehen wir aus dem<lb/>
&#x201E;Grab in den Himmel&#x201C; &#x2014; &#x017F;agte der tiefgeru&#x0364;hrte<lb/>
Genius, da oben eine Flo&#x0364;te (als Zeichen der auf¬<lb/>
ge&#x017F;perrten Thu&#x0364;ren) anfieng, &#x017F;ie mit &#x017F;anfter Stim¬<lb/>
me aus dem Grabe zu rufen. Der Kleine bebte<lb/>
vor Freude und Ang&#x017F;t. Die Flo&#x0364;te rufet fort, &#x2014;<lb/>
&#x017F;ie gehen den Todesgang der Himmelsleiter hinauf,<lb/>
&#x2014; ihre zwei <choice><sic>ang&#x017F;tlichen</sic><corr>a&#x0364;ng&#x017F;tlichen</corr></choice> Herzen zerbrechen mit<lb/>
ihren Schla&#x0364;gen beinahe die Bru&#x017F;t &#x2014; der Ge¬<lb/>
nius &#x017F;to&#x0364;ßet die Pforte auf, hinter der die Welt<lb/>
war &#x2014; und hebt &#x017F;einen <choice><sic>Frennd</sic><corr>Freund</corr></choice> in die Erde und<lb/>
unter dem Himmel hinaus . . . . . . Nun &#x017F;chlagen<lb/>
die hohen Wogen des lebendigen Meers u&#x0364;ber ihn<lb/>
zu&#x017F;ammen &#x2014; mit &#x017F;tockendem Athem, mit erdru&#x0364;cktem<lb/>
Auge, mit u&#x0364;ber&#x017F;chu&#x0364;tteter Seele &#x017F;teht er vor dem un¬<lb/>
u&#x0364;ber&#x017F;ehlichen Ange&#x017F;icht der Natur und ha&#x0364;lt &#x017F;ich zit¬<lb/>
ternd fe&#x017F;ter an &#x017F;einen Genius &#x2014; als er aber nach<lb/>
dem er&#x017F;ten Er&#x017F;tarren &#x017F;einen Gei&#x017F;t weit aufge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en<lb/>
hatte fu&#x0364;r die&#x017F;e Stro&#x0364;me &#x2014; als er die tau&#x017F;end Arme<lb/>
fu&#x0364;hlte, womit ihn die hohe Seele des Weltalls an<lb/>
den Bu&#x017F;en dru&#x0364;ckte &#x2014; als er zu &#x017F;ehen vermochte das<lb/>
gru&#x0364;ne taumelnde Blumenleben um &#x017F;ich und die ni¬<lb/>
ckenden Lilien, die lebendiger ihm &#x017F;chienen als &#x017F;eine,<lb/>
und als er die zitternde Blume todt zu treten fu&#x0364;rch¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[58/0094] breitete. „In dieſer Minute gehen wir aus dem „Grab in den Himmel“ — ſagte der tiefgeruͤhrte Genius, da oben eine Floͤte (als Zeichen der auf¬ geſperrten Thuͤren) anfieng, ſie mit ſanfter Stim¬ me aus dem Grabe zu rufen. Der Kleine bebte vor Freude und Angſt. Die Floͤte rufet fort, — ſie gehen den Todesgang der Himmelsleiter hinauf, — ihre zwei aͤngſtlichen Herzen zerbrechen mit ihren Schlaͤgen beinahe die Bruſt — der Ge¬ nius ſtoͤßet die Pforte auf, hinter der die Welt war — und hebt ſeinen Freund in die Erde und unter dem Himmel hinaus . . . . . . Nun ſchlagen die hohen Wogen des lebendigen Meers uͤber ihn zuſammen — mit ſtockendem Athem, mit erdruͤcktem Auge, mit uͤberſchuͤtteter Seele ſteht er vor dem un¬ uͤberſehlichen Angeſicht der Natur und haͤlt ſich zit¬ ternd feſter an ſeinen Genius — als er aber nach dem erſten Erſtarren ſeinen Geiſt weit aufgeſchloſſen hatte fuͤr dieſe Stroͤme — als er die tauſend Arme fuͤhlte, womit ihn die hohe Seele des Weltalls an den Buſen druͤckte — als er zu ſehen vermochte das gruͤne taumelnde Blumenleben um ſich und die ni¬ ckenden Lilien, die lebendiger ihm ſchienen als ſeine, und als er die zitternde Blume todt zu treten fuͤrch¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/94
Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/94>, abgerufen am 25.04.2024.