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Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

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festen Jünglings angehört, als einmal der Di¬
rektor es nach Hause brachte, daß die fromme
Ministerinn die Tochter am ersten Pfingsttage
das Abendmahl empfangen lasse, weil sie be¬
sorge, der Tod halte solche für eine Erdbeere,
die man pflücken müsse ehe sie die Sonne be¬
schienen. -- Ach Albano sah nun schon den
Tod unter dem Suchen mit der steinernen Ferse
auf die bleichrothe Beere tappen und sie ertre¬
ten. Und dann hatte diese Philomele ohne
Zunge, weil sie bisher verstummen mußte, ihm
wie einer Progne, nur die gemalte Geschichte
ihres schweren Daseins gesandt und nur die
Pergamentblätter! -- Alle liebenden Empfin¬
dungen gehen, wie Gewächse, bei gewitterhaf¬
ter Luft des Lebens schneller in die Höhe; Al¬
bano fühlte zugleich ein weites tiefes Weh und
eine quälende Fieber-Wärme in seinen vom
Tode ausgehöhlten Herzen. -- Auf eine sonder¬
bare Art mengten sich bei seinem musikalischen
und poetischen Phantasiren auf dem Österlein¬
schen Flügel die geträumten Töne von Lianens
Stimme und das tönende Weinen, die Harmo¬
nika, die sie spielen konnte und die er nie

gehört,

feſten Jünglings angehört, als einmal der Di¬
rektor es nach Hauſe brachte, daß die fromme
Miniſterinn die Tochter am erſten Pfingſttage
das Abendmahl empfangen laſſe, weil ſie be¬
ſorge, der Tod halte ſolche für eine Erdbeere,
die man pflücken müſſe ehe ſie die Sonne be¬
ſchienen. — Ach Albano ſah nun ſchon den
Tod unter dem Suchen mit der ſteinernen Ferſe
auf die bleichrothe Beere tappen und ſie ertre¬
ten. Und dann hatte dieſe Philomele ohne
Zunge, weil ſie bisher verſtummen mußte, ihm
wie einer Progne, nur die gemalte Geſchichte
ihres ſchweren Daſeins geſandt und nur die
Pergamentblätter! — Alle liebenden Empfin¬
dungen gehen, wie Gewächſe, bei gewitterhaf¬
ter Luft des Lebens ſchneller in die Höhe; Al¬
bano fühlte zugleich ein weites tiefes Weh und
eine quälende Fieber-Wärme in ſeinen vom
Tode ausgehöhlten Herzen. — Auf eine ſonder¬
bare Art mengten ſich bei ſeinem muſikaliſchen
und poetiſchen Phantaſiren auf dem Öſterlein¬
ſchen Flügel die geträumten Töne von Lianens
Stimme und das tönende Weinen, die Harmo¬
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[224/0244] feſten Jünglings angehört, als einmal der Di¬ rektor es nach Hauſe brachte, daß die fromme Miniſterinn die Tochter am erſten Pfingſttage das Abendmahl empfangen laſſe, weil ſie be¬ ſorge, der Tod halte ſolche für eine Erdbeere, die man pflücken müſſe ehe ſie die Sonne be¬ ſchienen. — Ach Albano ſah nun ſchon den Tod unter dem Suchen mit der ſteinernen Ferſe auf die bleichrothe Beere tappen und ſie ertre¬ ten. Und dann hatte dieſe Philomele ohne Zunge, weil ſie bisher verſtummen mußte, ihm wie einer Progne, nur die gemalte Geſchichte ihres ſchweren Daſeins geſandt und nur die Pergamentblätter! — Alle liebenden Empfin¬ dungen gehen, wie Gewächſe, bei gewitterhaf¬ ter Luft des Lebens ſchneller in die Höhe; Al¬ bano fühlte zugleich ein weites tiefes Weh und eine quälende Fieber-Wärme in ſeinen vom Tode ausgehöhlten Herzen. — Auf eine ſonder¬ bare Art mengten ſich bei ſeinem muſikaliſchen und poetiſchen Phantaſiren auf dem Öſterlein¬ ſchen Flügel die geträumten Töne von Lianens Stimme und das tönende Weinen, die Harmo¬ nika, die ſie ſpielen konnte und die er nie gehört,

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/244>, abgerufen am 24.04.2024.