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Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

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Wir wollen nicht zu lange auf diese späte
Zeit des Lebens blicken, wo sich die Menschen wie¬
der als Kinder für die längere Wiege des Grabes
verkürzen; und wo sie gleich den Abends schla¬
fenden Blumen unkenntlich sind und einan¬
der früher als im Tode gleich werden.

Besonders dem Lektor war wie allen Hof¬
leuten schlecht mit diesen Funeralien gedient;
auch wollt' er gern die Hiobskrankheit ihres
Klagens durch Versetzung heilen und führte sie
näher zu Lianen. Aber eben, indem sie den
Antheil und die Opfer dieser Freundinn beschrieb
und indem ihr wieder die lange weinende Um¬
armung erschien, worin Liane sie und den
Schmerz gleichsam fest an sich geschlossen hatte,
so kehrte jeder dunkle schwere Blutstropfe den
die kräftigen Pulsadern fortgetrieben hatten,
wieder in das Herz zurück und sie hörte auf,
zu malen, sowohl diese Geschichte als den Kopf.

Die beiden Freundinnen waren keine solche,
die sich den Kuß durch zwei Flöre hinauslan¬
gen, oder die einander abzuherzen wissen, ohne
die kleinste Quetschwunde der Frisur, oder de¬
ren Liebesmahl sich jedes Jahr, wie das Abend¬

Wir wollen nicht zu lange auf dieſe ſpäte
Zeit des Lebens blicken, wo ſich die Menſchen wie¬
der als Kinder für die längere Wiege des Grabes
verkürzen; und wo ſie gleich den Abends ſchla¬
fenden Blumen unkenntlich ſind und einan¬
der früher als im Tode gleich werden.

Beſonders dem Lektor war wie allen Hof¬
leuten ſchlecht mit dieſen Funeralien gedient;
auch wollt' er gern die Hiobskrankheit ihres
Klagens durch Verſetzung heilen und führte ſie
näher zu Lianen. Aber eben, indem ſie den
Antheil und die Opfer dieſer Freundinn beſchrieb
und indem ihr wieder die lange weinende Um¬
armung erſchien, worin Liane ſie und den
Schmerz gleichſam feſt an ſich geſchloſſen hatte,
ſo kehrte jeder dunkle ſchwere Blutstropfe den
die kräftigen Pulsadern fortgetrieben hatten,
wieder in das Herz zurück und ſie hörte auf,
zu malen, ſowohl dieſe Geſchichte als den Kopf.

Die beiden Freundinnen waren keine ſolche,
die ſich den Kuß durch zwei Flöre hinauslan¬
gen, oder die einander abzuherzen wiſſen, ohne
die kleinſte Quetſchwunde der Friſur, oder de¬
ren Liebesmahl ſich jedes Jahr, wie das Abend¬

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[290/0310] Wir wollen nicht zu lange auf dieſe ſpäte Zeit des Lebens blicken, wo ſich die Menſchen wie¬ der als Kinder für die längere Wiege des Grabes verkürzen; und wo ſie gleich den Abends ſchla¬ fenden Blumen unkenntlich ſind und einan¬ der früher als im Tode gleich werden. Beſonders dem Lektor war wie allen Hof¬ leuten ſchlecht mit dieſen Funeralien gedient; auch wollt' er gern die Hiobskrankheit ihres Klagens durch Verſetzung heilen und führte ſie näher zu Lianen. Aber eben, indem ſie den Antheil und die Opfer dieſer Freundinn beſchrieb und indem ihr wieder die lange weinende Um¬ armung erſchien, worin Liane ſie und den Schmerz gleichſam feſt an ſich geſchloſſen hatte, ſo kehrte jeder dunkle ſchwere Blutstropfe den die kräftigen Pulsadern fortgetrieben hatten, wieder in das Herz zurück und ſie hörte auf, zu malen, ſowohl dieſe Geſchichte als den Kopf. Die beiden Freundinnen waren keine ſolche, die ſich den Kuß durch zwei Flöre hinauslan¬ gen, oder die einander abzuherzen wiſſen, ohne die kleinſte Quetſchwunde der Friſur, oder de¬ ren Liebesmahl ſich jedes Jahr, wie das Abend¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/310>, abgerufen am 18.04.2024.