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Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

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neben dessen stiller, blasser Tochter saß, die
bald auf ihn bald auf eine ihm noch aus Lia¬
nens Morgenzimmer bekannte Spiel-Schäferei
hinsah -- als das Morgenwehen durchs kühle
Fenster das herrliche Getümmel hereintrieb --
besonders als im lichten Ausschnitte des Fußbo¬
dens die sinesischen Schatten des Wein- und
Pappellaubes sich ineinander kräuselten -- und
als endlich Chariton den Säugling mit einem
eiligern lautern Wiegenliede einsang, das ihm
tönte wie ihr nachhallender Seufzer nach dem
schönen Jugendlande: so wurd' ihm das volle
vom ganzen Morgen angeregte Herz so wun¬
derbar und -- besonders durch das wankende
Schattengefecht -- fast bis zum Weinen be¬
wegt; und das Kind blickt' ihm immer bedeu¬
tender ins Gesicht.

Da kam Pollux mit seinen beiden Quart¬
blättern zurück und setzte sich nun selber auf
seine Leseprobe. Schon die erste Seite kompo¬
nirte zu Albans innern Liedern die Melodie;
aber er errieth weder die Verfasserinn noch das
Datum des Briefes, außer später durch ein
hin- und herspringendes Lesen. Die Blätter

neben deſſen ſtiller, blaſſer Tochter ſaß, die
bald auf ihn bald auf eine ihm noch aus Lia¬
nens Morgenzimmer bekannte Spiel-Schäferei
hinſah — als das Morgenwehen durchs kühle
Fenſter das herrliche Getümmel hereintrieb —
beſonders als im lichten Ausſchnitte des Fußbo¬
dens die ſineſiſchen Schatten des Wein- und
Pappellaubes ſich ineinander kräuſelten — und
als endlich Chariton den Säugling mit einem
eiligern lautern Wiegenliede einſang, das ihm
tönte wie ihr nachhallender Seufzer nach dem
ſchönen Jugendlande: ſo wurd' ihm das volle
vom ganzen Morgen angeregte Herz ſo wun¬
derbar und — beſonders durch das wankende
Schattengefecht — faſt bis zum Weinen be¬
wegt; und das Kind blickt' ihm immer bedeu¬
tender ins Geſicht.

Da kam Pollux mit ſeinen beiden Quart¬
blättern zurück und ſetzte ſich nun ſelber auf
ſeine Leſeprobe. Schon die erſte Seite kompo¬
nirte zu Albans innern Liedern die Melodie;
aber er errieth weder die Verfaſſerinn noch das
Datum des Briefes, außer ſpäter durch ein
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[413/0433] neben deſſen ſtiller, blaſſer Tochter ſaß, die bald auf ihn bald auf eine ihm noch aus Lia¬ nens Morgenzimmer bekannte Spiel-Schäferei hinſah — als das Morgenwehen durchs kühle Fenſter das herrliche Getümmel hereintrieb — beſonders als im lichten Ausſchnitte des Fußbo¬ dens die ſineſiſchen Schatten des Wein- und Pappellaubes ſich ineinander kräuſelten — und als endlich Chariton den Säugling mit einem eiligern lautern Wiegenliede einſang, das ihm tönte wie ihr nachhallender Seufzer nach dem ſchönen Jugendlande: ſo wurd' ihm das volle vom ganzen Morgen angeregte Herz ſo wun¬ derbar und — beſonders durch das wankende Schattengefecht — faſt bis zum Weinen be¬ wegt; und das Kind blickt' ihm immer bedeu¬ tender ins Geſicht. Da kam Pollux mit ſeinen beiden Quart¬ blättern zurück und ſetzte ſich nun ſelber auf ſeine Leſeprobe. Schon die erſte Seite kompo¬ nirte zu Albans innern Liedern die Melodie; aber er errieth weder die Verfaſſerinn noch das Datum des Briefes, außer ſpäter durch ein hin- und herſpringendes Leſen. Die Blätter

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/433>, abgerufen am 29.03.2024.