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Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802.

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Er brachte sich sehr gute Grundsätze vor das
Auge; der Mensch, sagt' er, ist frei und ohne
Gränze nicht in dem, was er machen oder ge¬
niessen, sondern in dem, was er entbehren will;
alles kann er, wenn er will, entbehren wol¬
len
. Ueberhaupt, fuhr er fort, hat man bloß
die Wahl, entweder immer oder nie zu fürch¬

einzelnen Menschen nur die Glieder eines einzi¬
gen Riesen werden, wie der Schwedenborgische
ist. Aber insofern in dem einen Individuum
ein Mangel entsteht, der einem entgegengesetzten
in dem andern abhilft -- so daß der Weg der
Menschheit gleich sehr plagt und stößet durch
Vertiefung und durch Erhöhung -- so sieht
man, daß jede einseitige Fülle nur Kur der Zeit ist,
nicht Gesundheit derselben; und daß das höhere
Gesetz zwar langsamere individuelle aber har¬
monische Ausbildung bleibt; zwar kleinere aber
allseitige und dadurch in der spätern Zeit sogar
schnellere. Wir vergessen immer, daß -- wie in
der Mechanik sich Kraft und Zeit gegenseitig
ergänzen -- die Ewigkeit die unendliche Kraft
sey.

Er brachte ſich ſehr gute Grundſätze vor das
Auge; der Menſch, ſagt' er, iſt frei und ohne
Gränze nicht in dem, was er machen oder ge¬
nieſſen, ſondern in dem, was er entbehren will;
alles kann er, wenn er will, entbehren wol¬
len
. Ueberhaupt, fuhr er fort, hat man bloß
die Wahl, entweder immer oder nie zu fürch¬

einzelnen Menſchen nur die Glieder eines einzi¬
gen Rieſen werden, wie der Schwedenborgiſche
iſt. Aber inſofern in dem einen Individuum
ein Mangel entſteht, der einem entgegengeſetzten
in dem andern abhilft — ſo daß der Weg der
Menſchheit gleich ſehr plagt und ſtößet durch
Vertiefung und durch Erhöhung — ſo ſieht
man, daß jede einſeitige Fülle nur Kur der Zeit iſt,
nicht Geſundheit derſelben; und daß das höhere
Geſetz zwar langſamere individuelle aber har¬
moniſche Ausbildung bleibt; zwar kleinere aber
allſeitige und dadurch in der ſpätern Zeit ſogar
ſchnellere. Wir vergeſſen immer, daß — wie in
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[9/0021] Er brachte ſich ſehr gute Grundſätze vor das Auge; der Menſch, ſagt' er, iſt frei und ohne Gränze nicht in dem, was er machen oder ge¬ nieſſen, ſondern in dem, was er entbehren will; alles kann er, wenn er will, entbehren wol¬ len. Ueberhaupt, fuhr er fort, hat man bloß die Wahl, entweder immer oder nie zu fürch¬ *) *) einzelnen Menſchen nur die Glieder eines einzi¬ gen Rieſen werden, wie der Schwedenborgiſche iſt. Aber inſofern in dem einen Individuum ein Mangel entſteht, der einem entgegengeſetzten in dem andern abhilft — ſo daß der Weg der Menſchheit gleich ſehr plagt und ſtößet durch Vertiefung und durch Erhöhung — ſo ſieht man, daß jede einſeitige Fülle nur Kur der Zeit iſt, nicht Geſundheit derſelben; und daß das höhere Geſetz zwar langſamere individuelle aber har¬ moniſche Ausbildung bleibt; zwar kleinere aber allſeitige und dadurch in der ſpätern Zeit ſogar ſchnellere. Wir vergeſſen immer, daß — wie in der Mechanik ſich Kraft und Zeit gegenſeitig ergänzen — die Ewigkeit die unendliche Kraft ſey.

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/21>, abgerufen am 19.04.2024.