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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
in der Südsee die Maori Neuseelands, die Tahitier, die Papuanen,
endlich die Australier diesen Ausdruck der Zärtlichkeit nicht, in Ame-
rika aber weder Eskimo noch Feuerländer ihn kennen. Winwood
Reade erregte das Entsetzen eines Negermädchens als er sie geküsst
hatte, denn in ganz Westafrika sind solche Liebkosungen ungebräuch-
lich2), und ebenso stiess Bayard Taylor bei den Frauen Lapplands auf
eine entschiedene Abneigung gegen jede derartige Berührung3).
Sie ist selbstverständlich ausgeschlossen bei allen Völkern, welche
die Lippen aufschlitzen und kleine Hölzer einsetzen, wie es die
Stämme an den Küsten des Beringsmeeres und ihre Nachbarn die
Koluschen, ferner die Botocuden in Brasilien und die südafrikani-
schen Neger thun, deren Frauen das Pelele tragen.

8. Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.

Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft liegen eingeschlossen
in der Familie. Diesen Verband haben unter allen Völkern der
Erde die Chinesen am stärksten befestigt, denn die Verehrung der
Eltern steigert sich bei ihnen fast zu einem religiösen Dienst. Zu
den heiligsten Pflichten, welche die Familienglieder verknüpfte, ge-
hörte die Blutrache, eine Satzung, die nicht etwa unsern Abscheu
verdient, sondern in der wir den ersten Versuch zur Begründung
eines Rechtsschutzes zu verehren haben. Alle Völker der Erde
haben in Vorzeiten dieses Gebot beobachtet, das in Europa auf
Corsika und unter den Albanesen sich noch bis in unsere Tage
behauptet hat. Confutse legte dem Sohne die Pflicht auf, so lange
Waffen zu tragen, bis er den Mörder seines Vaters erreicht und
erschlagen habe. Auch die ausgestorbenen Tasmanier beobachteten
die Rachepflicht4) und ebenso hafteten bei den ihnen blutsverwandten
Australiern alle Glieder einer Horde für jede Blutthat, die einer
1)

2) Savage Africa. London 1863. p. 193.
3) Nordische Reise. S. 135.
4) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 814.
1) Auch die Marquesasinsulaner (v. Langsdorff, Reise um die Welt.
Bd. 1. S. 98) und wahrscheinlich alle Polynesier, vielleicht alle Völker, bei
denen der Malayenkuss (S. oben S. 24) gebräuchlich ist, verschmähen diese
Liebkosung. Vgl. auch Jagor, die Philippinen. S. 132.

Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
in der Südsee die Maori Neuseelands, die Tahitier, die Papuanen,
endlich die Australier diesen Ausdruck der Zärtlichkeit nicht, in Ame-
rika aber weder Eskimo noch Feuerländer ihn kennen. Winwood
Reade erregte das Entsetzen eines Negermädchens als er sie geküsst
hatte, denn in ganz Westafrika sind solche Liebkosungen ungebräuch-
lich2), und ebenso stiess Bayard Taylor bei den Frauen Lapplands auf
eine entschiedene Abneigung gegen jede derartige Berührung3).
Sie ist selbstverständlich ausgeschlossen bei allen Völkern, welche
die Lippen aufschlitzen und kleine Hölzer einsetzen, wie es die
Stämme an den Küsten des Beringsmeeres und ihre Nachbarn die
Koluschen, ferner die Botocuden in Brasilien und die südafrikani-
schen Neger thun, deren Frauen das Pelele tragen.

8. Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.

Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft liegen eingeschlossen
in der Familie. Diesen Verband haben unter allen Völkern der
Erde die Chinesen am stärksten befestigt, denn die Verehrung der
Eltern steigert sich bei ihnen fast zu einem religiösen Dienst. Zu
den heiligsten Pflichten, welche die Familienglieder verknüpfte, ge-
hörte die Blutrache, eine Satzung, die nicht etwa unsern Abscheu
verdient, sondern in der wir den ersten Versuch zur Begründung
eines Rechtsschutzes zu verehren haben. Alle Völker der Erde
haben in Vorzeiten dieses Gebot beobachtet, das in Europa auf
Corsika und unter den Albanesen sich noch bis in unsere Tage
behauptet hat. Confutse legte dem Sohne die Pflicht auf, so lange
Waffen zu tragen, bis er den Mörder seines Vaters erreicht und
erschlagen habe. Auch die ausgestorbenen Tasmanier beobachteten
die Rachepflicht4) und ebenso hafteten bei den ihnen blutsverwandten
Australiern alle Glieder einer Horde für jede Blutthat, die einer
1)

2) Savage Africa. London 1863. p. 193.
3) Nordische Reise. S. 135.
4) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 814.
1) Auch die Marquesasinsulaner (v. Langsdorff, Reise um die Welt.
Bd. 1. S. 98) und wahrscheinlich alle Polynesier, vielleicht alle Völker, bei
denen der Malayenkuss (S. oben S. 24) gebräuchlich ist, verschmähen diese
Liebkosung. Vgl. auch Jagor, die Philippinen. S. 132.
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[247/0265] Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft. in der Südsee die Maori Neuseelands, die Tahitier, die Papuanen, endlich die Australier diesen Ausdruck der Zärtlichkeit nicht, in Ame- rika aber weder Eskimo noch Feuerländer ihn kennen. Winwood Reade erregte das Entsetzen eines Negermädchens als er sie geküsst hatte, denn in ganz Westafrika sind solche Liebkosungen ungebräuch- lich 2), und ebenso stiess Bayard Taylor bei den Frauen Lapplands auf eine entschiedene Abneigung gegen jede derartige Berührung 3). Sie ist selbstverständlich ausgeschlossen bei allen Völkern, welche die Lippen aufschlitzen und kleine Hölzer einsetzen, wie es die Stämme an den Küsten des Beringsmeeres und ihre Nachbarn die Koluschen, ferner die Botocuden in Brasilien und die südafrikani- schen Neger thun, deren Frauen das Pelele tragen. 8. Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft. Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft liegen eingeschlossen in der Familie. Diesen Verband haben unter allen Völkern der Erde die Chinesen am stärksten befestigt, denn die Verehrung der Eltern steigert sich bei ihnen fast zu einem religiösen Dienst. Zu den heiligsten Pflichten, welche die Familienglieder verknüpfte, ge- hörte die Blutrache, eine Satzung, die nicht etwa unsern Abscheu verdient, sondern in der wir den ersten Versuch zur Begründung eines Rechtsschutzes zu verehren haben. Alle Völker der Erde haben in Vorzeiten dieses Gebot beobachtet, das in Europa auf Corsika und unter den Albanesen sich noch bis in unsere Tage behauptet hat. Confutse legte dem Sohne die Pflicht auf, so lange Waffen zu tragen, bis er den Mörder seines Vaters erreicht und erschlagen habe. Auch die ausgestorbenen Tasmanier beobachteten die Rachepflicht 4) und ebenso hafteten bei den ihnen blutsverwandten Australiern alle Glieder einer Horde für jede Blutthat, die einer 1) 2) Savage Africa. London 1863. p. 193. 3) Nordische Reise. S. 135. 4) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 814. 1) Auch die Marquesasinsulaner (v. Langsdorff, Reise um die Welt. Bd. 1. S. 98) und wahrscheinlich alle Polynesier, vielleicht alle Völker, bei denen der Malayenkuss (S. oben S. 24) gebräuchlich ist, verschmähen diese Liebkosung. Vgl. auch Jagor, die Philippinen. S. 132.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/265>, abgerufen am 18.04.2024.