Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Bau der menschlichen Sprache.
mit einem mässigen Schatze einsylbiger Wurzeln ihren Gedanken-
austausch vollziehen konnten und ihre Sprache auf einer Stufe stand, wie
noch jetzt das Chinesische. Doch trat die Scheidung der Wurzeln
für die Pronomina so früh ein, dass sie manchen Beobachtern
sogar als etwas ursprüngliches erscheint 1). Die Ansicht Jacob
Grimms, dass der Stamm der Wurzel tu auf den Begriff gross
sein, wachsen zurückführe, so dass du eigentlich Grösse bedeutet
oder etwa heutige Prädicate, wie Euer Gnaden vertrete, wird je-
doch von Kleinpaul durch die Beobachtung gestützt, dass der
Chinese aus Höflichkeit im Gespräche sich selbst erniedrigt und
statt ich habe sich ausdrückt Diener hat, Knecht hat, Dummkopf
hat
2). Im Deutschen hört man ganz ähnlich das Wort ich durch
meine Wenigkeit ersetzen. Die Wortbildung geschah ursprünglich
durch Anlöthung der sinnbegrenzenden Wurzel am Ende, während
Präfixe nur sehr spärlich angewendet wurden, nämlich hauptsäch-
lich bei Verneinungen durch un in un-dankbar oder a in Atheis-
mus, dann durch vortretende Präpositionen, wie ausdehnen,
vorschlagen, durchschauen, endlich durch das vorausgehende a oder
a des sogenannten Augmentes bei dem ursprünglichen Tempus
der Vergangenheit 3). Die deutsche Sprache ist übrigens reich an
Präfixen, deren ursprüngliche Bedeutung dem Verständniss ent-
schwunden ist, wie beschreiben, ergründen, zerfleischen, verkaufen
u. s. w. Die ursprüngliche Bedeutung dieser Hilfswörtchen gehört
längst der Vergessenheit an und so treten sie nur noch in Dienst-
barkeit als sinnbegrenzende Lautgruppen an oder vor die Haupt-
wurzel. In neueren Zeiten aber trat ein Verfall der Formbildungen
namentlich in den germanischen Sprachen ein. Nachdem die
Flexionsendungen bis zur Unkenntlichkeit sich abgestumpft hatten,
griff die Sprachbildung zum Ersatz für bedeutsame Affixe und Re-
duplicationen zu einem früher nur zufällig und beiläufig angewen-
deten Mittel der Sinnbegrenzung, zu dem Vocalwandel. Sie be-
nutzte den Umlaut von a, o, u in ä, ö, ü zur Bildung theils der
Plurale theils der Conjunctive (Vater, Väter, Mutter, Mütter oder
konnte, könnte, trug, trüge) sowie den Ablaut zu verschiednen Ver-

1) Whitney, Study of language. London 1867. p. 261.
2) Zeitschrift für Völkerpsychologie. Berlin 1869. Bd. 6. S. 363.
3) Whitney, Study of language. p. 256. p. 267.

Der Bau der menschlichen Sprache.
mit einem mässigen Schatze einsylbiger Wurzeln ihren Gedanken-
austausch vollziehen konnten und ihre Sprache auf einer Stufe stand, wie
noch jetzt das Chinesische. Doch trat die Scheidung der Wurzeln
für die Pronomina so früh ein, dass sie manchen Beobachtern
sogar als etwas ursprüngliches erscheint 1). Die Ansicht Jacob
Grimms, dass der Stamm der Wurzel tu auf den Begriff gross
sein, wachsen zurückführe, so dass du eigentlich Grösse bedeutet
oder etwa heutige Prädicate, wie Euer Gnaden vertrete, wird je-
doch von Kleinpaul durch die Beobachtung gestützt, dass der
Chinese aus Höflichkeit im Gespräche sich selbst erniedrigt und
statt ich habe sich ausdrückt Diener hat, Knecht hat, Dummkopf
hat
2). Im Deutschen hört man ganz ähnlich das Wort ich durch
meine Wenigkeit ersetzen. Die Wortbildung geschah ursprünglich
durch Anlöthung der sinnbegrenzenden Wurzel am Ende, während
Präfixe nur sehr spärlich angewendet wurden, nämlich hauptsäch-
lich bei Verneinungen durch un in un-dankbar oder a in Atheis-
mus, dann durch vortretende Präpositionen, wie ausdehnen,
vorschlagen, durchschauen, endlich durch das vorausgehende a oder
ā des sogenannten Augmentes bei dem ursprünglichen Tempus
der Vergangenheit 3). Die deutsche Sprache ist übrigens reich an
Präfixen, deren ursprüngliche Bedeutung dem Verständniss ent-
schwunden ist, wie beschreiben, ergründen, zerfleischen, verkaufen
u. s. w. Die ursprüngliche Bedeutung dieser Hilfswörtchen gehört
längst der Vergessenheit an und so treten sie nur noch in Dienst-
barkeit als sinnbegrenzende Lautgruppen an oder vor die Haupt-
wurzel. In neueren Zeiten aber trat ein Verfall der Formbildungen
namentlich in den germanischen Sprachen ein. Nachdem die
Flexionsendungen bis zur Unkenntlichkeit sich abgestumpft hatten,
griff die Sprachbildung zum Ersatz für bedeutsame Affixe und Re-
duplicationen zu einem früher nur zufällig und beiläufig angewen-
deten Mittel der Sinnbegrenzung, zu dem Vocalwandel. Sie be-
nutzte den Umlaut von a, o, u in ä, ö, ü zur Bildung theils der
Plurale theils der Conjunctive (Vater, Väter, Mutter, Mütter oder
konnte, könnte, trug, trüge) sowie den Ablaut zu verschiednen Ver-

1) Whitney, Study of language. London 1867. p. 261.
2) Zeitschrift für Völkerpsychologie. Berlin 1869. Bd. 6. S. 363.
3) Whitney, Study of language. p. 256. p. 267.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0150" n="132"/><fw place="top" type="header">Der Bau der menschlichen Sprache.</fw><lb/>
mit einem mässigen Schatze einsylbiger Wurzeln ihren Gedanken-<lb/>
austausch vollziehen konnten und ihre Sprache auf einer Stufe stand, wie<lb/>
noch jetzt das Chinesische. Doch trat die Scheidung der Wurzeln<lb/>
für die Pronomina so früh ein, dass sie manchen Beobachtern<lb/>
sogar als etwas ursprüngliches erscheint <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#g">Whitney</hi>, Study of language. London 1867. p. 261.</note>. Die Ansicht Jacob<lb/>
Grimms, dass der Stamm der Wurzel <hi rendition="#i">tu</hi> auf den Begriff gross<lb/>
sein, wachsen zurückführe, so dass <hi rendition="#i">du</hi> eigentlich Grösse bedeutet<lb/>
oder etwa heutige Prädicate, wie Euer Gnaden vertrete, wird je-<lb/>
doch von Kleinpaul durch die Beobachtung gestützt, dass der<lb/>
Chinese aus Höflichkeit im Gespräche sich selbst erniedrigt und<lb/>
statt <hi rendition="#i">ich habe</hi> sich ausdrückt <hi rendition="#i">Diener hat, Knecht hat, Dummkopf<lb/>
hat</hi> <note place="foot" n="2)">Zeitschrift für Völkerpsychologie. Berlin 1869. Bd. 6. S. 363.</note>. Im Deutschen hört man ganz ähnlich das Wort <hi rendition="#i">ich</hi> durch<lb/><hi rendition="#i">meine Wenigkeit</hi> ersetzen. Die Wortbildung geschah ursprünglich<lb/>
durch Anlöthung der sinnbegrenzenden Wurzel am Ende, während<lb/>
Präfixe nur sehr spärlich angewendet wurden, nämlich hauptsäch-<lb/>
lich bei Verneinungen durch <hi rendition="#i">un</hi> in un-dankbar oder <hi rendition="#i">a</hi> in Atheis-<lb/>
mus, dann durch vortretende Präpositionen, wie <hi rendition="#i">aus</hi>dehnen,<lb/><hi rendition="#i">vor</hi>schlagen, <hi rendition="#i">durch</hi>schauen, endlich durch das vorausgehende <hi rendition="#i">a</hi> oder<lb/><hi rendition="#i">&#x0101;</hi> des sogenannten Augmentes bei dem ursprünglichen Tempus<lb/>
der Vergangenheit <note place="foot" n="3)"><hi rendition="#g">Whitney</hi>, Study of language. p. 256. p. 267.</note>. Die deutsche Sprache ist übrigens reich an<lb/>
Präfixen, deren ursprüngliche Bedeutung dem Verständniss ent-<lb/>
schwunden ist, wie <hi rendition="#i">be</hi>schreiben, <hi rendition="#i">er</hi>gründen, <hi rendition="#i">zer</hi>fleischen, <hi rendition="#i">ver</hi>kaufen<lb/>
u. s. w. Die ursprüngliche Bedeutung dieser Hilfswörtchen gehört<lb/>
längst der Vergessenheit an und so treten sie nur noch in Dienst-<lb/>
barkeit als sinnbegrenzende Lautgruppen an oder vor die Haupt-<lb/>
wurzel. In neueren Zeiten aber trat ein Verfall der Formbildungen<lb/>
namentlich in den germanischen Sprachen ein. Nachdem die<lb/>
Flexionsendungen bis zur Unkenntlichkeit sich abgestumpft hatten,<lb/>
griff die Sprachbildung zum Ersatz für bedeutsame Affixe und Re-<lb/>
duplicationen zu einem früher nur zufällig und beiläufig angewen-<lb/>
deten Mittel der Sinnbegrenzung, zu dem Vocalwandel. Sie be-<lb/>
nutzte den Umlaut von a, o, u in ä, ö, ü zur Bildung theils der<lb/>
Plurale theils der Conjunctive (Vater, Väter, Mutter, Mütter oder<lb/>
konnte, könnte, trug, trüge) sowie den Ablaut zu verschiednen Ver-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[132/0150] Der Bau der menschlichen Sprache. mit einem mässigen Schatze einsylbiger Wurzeln ihren Gedanken- austausch vollziehen konnten und ihre Sprache auf einer Stufe stand, wie noch jetzt das Chinesische. Doch trat die Scheidung der Wurzeln für die Pronomina so früh ein, dass sie manchen Beobachtern sogar als etwas ursprüngliches erscheint 1). Die Ansicht Jacob Grimms, dass der Stamm der Wurzel tu auf den Begriff gross sein, wachsen zurückführe, so dass du eigentlich Grösse bedeutet oder etwa heutige Prädicate, wie Euer Gnaden vertrete, wird je- doch von Kleinpaul durch die Beobachtung gestützt, dass der Chinese aus Höflichkeit im Gespräche sich selbst erniedrigt und statt ich habe sich ausdrückt Diener hat, Knecht hat, Dummkopf hat 2). Im Deutschen hört man ganz ähnlich das Wort ich durch meine Wenigkeit ersetzen. Die Wortbildung geschah ursprünglich durch Anlöthung der sinnbegrenzenden Wurzel am Ende, während Präfixe nur sehr spärlich angewendet wurden, nämlich hauptsäch- lich bei Verneinungen durch un in un-dankbar oder a in Atheis- mus, dann durch vortretende Präpositionen, wie ausdehnen, vorschlagen, durchschauen, endlich durch das vorausgehende a oder ā des sogenannten Augmentes bei dem ursprünglichen Tempus der Vergangenheit 3). Die deutsche Sprache ist übrigens reich an Präfixen, deren ursprüngliche Bedeutung dem Verständniss ent- schwunden ist, wie beschreiben, ergründen, zerfleischen, verkaufen u. s. w. Die ursprüngliche Bedeutung dieser Hilfswörtchen gehört längst der Vergessenheit an und so treten sie nur noch in Dienst- barkeit als sinnbegrenzende Lautgruppen an oder vor die Haupt- wurzel. In neueren Zeiten aber trat ein Verfall der Formbildungen namentlich in den germanischen Sprachen ein. Nachdem die Flexionsendungen bis zur Unkenntlichkeit sich abgestumpft hatten, griff die Sprachbildung zum Ersatz für bedeutsame Affixe und Re- duplicationen zu einem früher nur zufällig und beiläufig angewen- deten Mittel der Sinnbegrenzung, zu dem Vocalwandel. Sie be- nutzte den Umlaut von a, o, u in ä, ö, ü zur Bildung theils der Plurale theils der Conjunctive (Vater, Väter, Mutter, Mütter oder konnte, könnte, trug, trüge) sowie den Ablaut zu verschiednen Ver- 1) Whitney, Study of language. London 1867. p. 261. 2) Zeitschrift für Völkerpsychologie. Berlin 1869. Bd. 6. S. 363. 3) Whitney, Study of language. p. 256. p. 267.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/150
Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/150>, abgerufen am 18.04.2024.