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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Stellung des Menschen in der Schöpfung.
Satz ist von Darwin widerlegt worden, der als Beispiel an-
führt, dass ein Affe in Paraguay 1) bei innerer Aufregung sechs
verschiedene Töne ausstösst, welche bei seinen Genossen ähnliche
Stimmungen veranlassen. Wenn auch das Gebiss des Menschen
und der Affen in der alten Welt übereinstimmt, so entwickelt sich
doch bei uns der dauernde Spitzzahn vor den letzten Backzähnen
und unter diesen die vorderen vor den hinteren, beim Affen da-
gegen bildet die Entwicklung der dauernden Spitzzähne den Schluss
der Zahnbildung, auch tritt der zweite hintere Backzahn früher hervor
als die zwei vorderen Backzähne. Endlich ist noch das frühere
Verschwinden des Zwischenkieferknochens bei der menschlichen
Leibesfrucht als Unterscheidung vom Affen anzuführen.

Durch die letzten Thatsachen werden wir noch gemahnt einen
Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Menschen zu werfen, die
so wichtig geworden ist, seit 1812 Johann Friedrich Meckel in Halle
es aussprach, dass jedes Thier im unreifen Zustande, und dieser
dauert von der Befruchtung des Eies bis zu den ersten Geschlechts-
thätigkeiten, alle Formen durchläuft, welche den tief und tiefer
unter ihm stehenden Thieren während des ganzen Lebens zu-
kommen. Zur Zeit der Geburt ist die Kluft zwischen dem
Kinde und dem Affenjungen noch immer sehr schmal. Neu-
linge könnten in Verlegenheit gerathen, wenn sie Schädel von
Kindern oder jungen Tschimpansen unterscheiden sollten. An
Grösse kommen sich die Hirne der Kinder und der Affen-
jungen sehr nahe, von allen Theilen des Kopfes aber wächst
das Gehirn des Affen am wenigsten. Wenn daher auch das Ge-
hirn des menschenähnlichen Affen alle Haupttheile des mensch-
lichen Gehirns enthält, so verfolgt doch seine Entwicklung eine
ganz andere Richtung. Das Junge des Orang oder Tschimpanse,
unsern Kindern im Betragen so ähnlich, verliert im Laufe des
Wachsthums mehr und mehr die Anklänge an die menschliche
Bildung. Ehe noch der Zahnwechsel sich einstellt, hat das Gehirn
des Affen in der Regel seine Vollendung erreicht, während beim
Kinde die eigentliche Ausbildung dann erst recht beginnt. Um-
gekehrt wächst beim Affen der Gesichtsschädel in thierischer Rich-
tung, so dass schliesslich der grösste Affe ein Kindergehirn mit
dem Gebiss eines Ochsen vereinigt. Daraus ergibt sich, dass

1) Cebus Azarae. Darwin, Ursprung des Menschen I, 45.

Stellung des Menschen in der Schöpfung.
Satz ist von Darwin widerlegt worden, der als Beispiel an-
führt, dass ein Affe in Paraguay 1) bei innerer Aufregung sechs
verschiedene Töne ausstösst, welche bei seinen Genossen ähnliche
Stimmungen veranlassen. Wenn auch das Gebiss des Menschen
und der Affen in der alten Welt übereinstimmt, so entwickelt sich
doch bei uns der dauernde Spitzzahn vor den letzten Backzähnen
und unter diesen die vorderen vor den hinteren, beim Affen da-
gegen bildet die Entwicklung der dauernden Spitzzähne den Schluss
der Zahnbildung, auch tritt der zweite hintere Backzahn früher hervor
als die zwei vorderen Backzähne. Endlich ist noch das frühere
Verschwinden des Zwischenkieferknochens bei der menschlichen
Leibesfrucht als Unterscheidung vom Affen anzuführen.

Durch die letzten Thatsachen werden wir noch gemahnt einen
Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Menschen zu werfen, die
so wichtig geworden ist, seit 1812 Johann Friedrich Meckel in Halle
es aussprach, dass jedes Thier im unreifen Zustande, und dieser
dauert von der Befruchtung des Eies bis zu den ersten Geschlechts-
thätigkeiten, alle Formen durchläuft, welche den tief und tiefer
unter ihm stehenden Thieren während des ganzen Lebens zu-
kommen. Zur Zeit der Geburt ist die Kluft zwischen dem
Kinde und dem Affenjungen noch immer sehr schmal. Neu-
linge könnten in Verlegenheit gerathen, wenn sie Schädel von
Kindern oder jungen Tschimpansen unterscheiden sollten. An
Grösse kommen sich die Hirne der Kinder und der Affen-
jungen sehr nahe, von allen Theilen des Kopfes aber wächst
das Gehirn des Affen am wenigsten. Wenn daher auch das Ge-
hirn des menschenähnlichen Affen alle Haupttheile des mensch-
lichen Gehirns enthält, so verfolgt doch seine Entwicklung eine
ganz andere Richtung. Das Junge des Orang oder Tschimpanse,
unsern Kindern im Betragen so ähnlich, verliert im Laufe des
Wachsthums mehr und mehr die Anklänge an die menschliche
Bildung. Ehe noch der Zahnwechsel sich einstellt, hat das Gehirn
des Affen in der Regel seine Vollendung erreicht, während beim
Kinde die eigentliche Ausbildung dann erst recht beginnt. Um-
gekehrt wächst beim Affen der Gesichtsschädel in thierischer Rich-
tung, so dass schliesslich der grösste Affe ein Kindergehirn mit
dem Gebiss eines Ochsen vereinigt. Daraus ergibt sich, dass

1) Cebus Azarae. Darwin, Ursprung des Menschen I, 45.
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[4/0022] Stellung des Menschen in der Schöpfung. Satz ist von Darwin widerlegt worden, der als Beispiel an- führt, dass ein Affe in Paraguay 1) bei innerer Aufregung sechs verschiedene Töne ausstösst, welche bei seinen Genossen ähnliche Stimmungen veranlassen. Wenn auch das Gebiss des Menschen und der Affen in der alten Welt übereinstimmt, so entwickelt sich doch bei uns der dauernde Spitzzahn vor den letzten Backzähnen und unter diesen die vorderen vor den hinteren, beim Affen da- gegen bildet die Entwicklung der dauernden Spitzzähne den Schluss der Zahnbildung, auch tritt der zweite hintere Backzahn früher hervor als die zwei vorderen Backzähne. Endlich ist noch das frühere Verschwinden des Zwischenkieferknochens bei der menschlichen Leibesfrucht als Unterscheidung vom Affen anzuführen. Durch die letzten Thatsachen werden wir noch gemahnt einen Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Menschen zu werfen, die so wichtig geworden ist, seit 1812 Johann Friedrich Meckel in Halle es aussprach, dass jedes Thier im unreifen Zustande, und dieser dauert von der Befruchtung des Eies bis zu den ersten Geschlechts- thätigkeiten, alle Formen durchläuft, welche den tief und tiefer unter ihm stehenden Thieren während des ganzen Lebens zu- kommen. Zur Zeit der Geburt ist die Kluft zwischen dem Kinde und dem Affenjungen noch immer sehr schmal. Neu- linge könnten in Verlegenheit gerathen, wenn sie Schädel von Kindern oder jungen Tschimpansen unterscheiden sollten. An Grösse kommen sich die Hirne der Kinder und der Affen- jungen sehr nahe, von allen Theilen des Kopfes aber wächst das Gehirn des Affen am wenigsten. Wenn daher auch das Ge- hirn des menschenähnlichen Affen alle Haupttheile des mensch- lichen Gehirns enthält, so verfolgt doch seine Entwicklung eine ganz andere Richtung. Das Junge des Orang oder Tschimpanse, unsern Kindern im Betragen so ähnlich, verliert im Laufe des Wachsthums mehr und mehr die Anklänge an die menschliche Bildung. Ehe noch der Zahnwechsel sich einstellt, hat das Gehirn des Affen in der Regel seine Vollendung erreicht, während beim Kinde die eigentliche Ausbildung dann erst recht beginnt. Um- gekehrt wächst beim Affen der Gesichtsschädel in thierischer Rich- tung, so dass schliesslich der grösste Affe ein Kindergehirn mit dem Gebiss eines Ochsen vereinigt. Daraus ergibt sich, dass 1) Cebus Azarae. Darwin, Ursprung des Menschen I, 45.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/22>, abgerufen am 29.03.2024.