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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die dualistischen Religionen.
Verkörperung seines Wandels in Gestalt einer hässlichen Dirne und
bei ihrem Anblick erwacht ihm die Erinnerung an alle seine Lügen
und Ungerechtigkeiten. Je nach dem Richtspruch wandelt die
Seele über die Brücke in die Behausung der Lobgesänge (garo
demana)
oder sie wird hinabgestossen von bösen Geistern in den
Schlund der Vernichtung (drudscho demana).

Es sei uns verziehen, wenn wir hier auf kurze Zeit die Era-
nier verlassen, um einzuflechten, dass über die ganze Erde ähn-
liche Vorstellungen von den Prüfungen der Seele nach dem Tode
verbreitet sind. Bei dem Todtengericht der Aegypter, als etwas
hinreichend Bekanntem, brauchen wir nicht zu verweilen. Nach
dem Glauben der Badagas im tamulischen Indien aber müssen die
Seelen an einer Feuersäule vorüber, welche die Sündhaften ver-
zehrt, und gelangen erst nach bestandener Gefahr auf einer Faden-
brücke in das Land der Seligen 1). Ganz ähnlich berichten Jesuiten-
prediger, dass nach dem Glauben der Huronen die Seelen der
Verstorbenen auf einem Baumstamm über den Todesfluss gehen
mussten, wobei manche von dem Wächter der Brücke oder einem
Hunde angegriffen und herabgestürzt werden 2). Tylor, der eifrig
noch andere Beispiele des Mythus von der Seelenbrücke gesam-
melt hat, fand ihn auch in einem altenglischen Leichengesang,
wo es heisst: The brig of dread no brader than a thread 3).

Die ergreifende Vorstellung der Eranier von einer sittlichen
Weltordnung hinderte nicht das Fortbestehen eines alten Fetisch-
wahns, der übrigens geschickt mit dem Grundgedanken des Mazda-
yasna oder der Lehre Zoroasters versöhnt wurde. So verehrte
man Mithra, die Sonne, als Auge Ormazd's, aber von ihm ge-
schaffen. Der schamanistische Haomatrank behielt gleichfalls seine
ungeschwächte Zauberkraft, wie in der Vorzeit. Vor allem aber
wurde und wird bis auf den heutigen Tag das Feuer als Ormazd-
sohn angebetet, keine Feuersbrunst darf daher anders als mit Erde
erstickt, kein Licht ausgeblasen werden, weil jeder Hauch verun-
reinigt, weshalb auch die Priester bei heiligen Handlungen, und
die anderen Parsen beim Gebet den Mund verhüllen. Das Feuer
wird durch das Kochen und durch das Schmiedehandwerk be-

1) Baierlein, Nach und aus Indien. S. 253.
2) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 92.
3) Urgeschichte der Menschheit. S. 451.

Die dualistischen Religionen.
Verkörperung seines Wandels in Gestalt einer hässlichen Dirne und
bei ihrem Anblick erwacht ihm die Erinnerung an alle seine Lügen
und Ungerechtigkeiten. Je nach dem Richtspruch wandelt die
Seele über die Brücke in die Behausung der Lobgesänge (garô
demâna)
oder sie wird hinabgestossen von bösen Geistern in den
Schlund der Vernichtung (drudschô demâna).

Es sei uns verziehen, wenn wir hier auf kurze Zeit die Erâ-
nier verlassen, um einzuflechten, dass über die ganze Erde ähn-
liche Vorstellungen von den Prüfungen der Seele nach dem Tode
verbreitet sind. Bei dem Todtengericht der Aegypter, als etwas
hinreichend Bekanntem, brauchen wir nicht zu verweilen. Nach
dem Glauben der Badagas im tamulischen Indien aber müssen die
Seelen an einer Feuersäule vorüber, welche die Sündhaften ver-
zehrt, und gelangen erst nach bestandener Gefahr auf einer Faden-
brücke in das Land der Seligen 1). Ganz ähnlich berichten Jesuiten-
prediger, dass nach dem Glauben der Huronen die Seelen der
Verstorbenen auf einem Baumstamm über den Todesfluss gehen
mussten, wobei manche von dem Wächter der Brücke oder einem
Hunde angegriffen und herabgestürzt werden 2). Tylor, der eifrig
noch andere Beispiele des Mythus von der Seelenbrücke gesam-
melt hat, fand ihn auch in einem altenglischen Leichengesang,
wo es heisst: The brig of dread no brader than a thread 3).

Die ergreifende Vorstellung der Erânier von einer sittlichen
Weltordnung hinderte nicht das Fortbestehen eines alten Fetisch-
wahns, der übrigens geschickt mit dem Grundgedanken des Mazda-
yasna oder der Lehre Zoroasters versöhnt wurde. So verehrte
man Mithra, die Sonne, als Auge Ormazd’s, aber von ihm ge-
schaffen. Der schamanistische Haomatrank behielt gleichfalls seine
ungeschwächte Zauberkraft, wie in der Vorzeit. Vor allem aber
wurde und wird bis auf den heutigen Tag das Feuer als Ormazd-
sohn angebetet, keine Feuersbrunst darf daher anders als mit Erde
erstickt, kein Licht ausgeblasen werden, weil jeder Hauch verun-
reinigt, weshalb auch die Priester bei heiligen Handlungen, und
die anderen Parsen beim Gebet den Mund verhüllen. Das Feuer
wird durch das Kochen und durch das Schmiedehandwerk be-

1) Baierlein, Nach und aus Indien. S. 253.
2) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 92.
3) Urgeschichte der Menschheit. S. 451.
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[298/0316] Die dualistischen Religionen. Verkörperung seines Wandels in Gestalt einer hässlichen Dirne und bei ihrem Anblick erwacht ihm die Erinnerung an alle seine Lügen und Ungerechtigkeiten. Je nach dem Richtspruch wandelt die Seele über die Brücke in die Behausung der Lobgesänge (garô demâna) oder sie wird hinabgestossen von bösen Geistern in den Schlund der Vernichtung (drudschô demâna). Es sei uns verziehen, wenn wir hier auf kurze Zeit die Erâ- nier verlassen, um einzuflechten, dass über die ganze Erde ähn- liche Vorstellungen von den Prüfungen der Seele nach dem Tode verbreitet sind. Bei dem Todtengericht der Aegypter, als etwas hinreichend Bekanntem, brauchen wir nicht zu verweilen. Nach dem Glauben der Badagas im tamulischen Indien aber müssen die Seelen an einer Feuersäule vorüber, welche die Sündhaften ver- zehrt, und gelangen erst nach bestandener Gefahr auf einer Faden- brücke in das Land der Seligen 1). Ganz ähnlich berichten Jesuiten- prediger, dass nach dem Glauben der Huronen die Seelen der Verstorbenen auf einem Baumstamm über den Todesfluss gehen mussten, wobei manche von dem Wächter der Brücke oder einem Hunde angegriffen und herabgestürzt werden 2). Tylor, der eifrig noch andere Beispiele des Mythus von der Seelenbrücke gesam- melt hat, fand ihn auch in einem altenglischen Leichengesang, wo es heisst: The brig of dread no brader than a thread 3). Die ergreifende Vorstellung der Erânier von einer sittlichen Weltordnung hinderte nicht das Fortbestehen eines alten Fetisch- wahns, der übrigens geschickt mit dem Grundgedanken des Mazda- yasna oder der Lehre Zoroasters versöhnt wurde. So verehrte man Mithra, die Sonne, als Auge Ormazd’s, aber von ihm ge- schaffen. Der schamanistische Haomatrank behielt gleichfalls seine ungeschwächte Zauberkraft, wie in der Vorzeit. Vor allem aber wurde und wird bis auf den heutigen Tag das Feuer als Ormazd- sohn angebetet, keine Feuersbrunst darf daher anders als mit Erde erstickt, kein Licht ausgeblasen werden, weil jeder Hauch verun- reinigt, weshalb auch die Priester bei heiligen Handlungen, und die anderen Parsen beim Gebet den Mund verhüllen. Das Feuer wird durch das Kochen und durch das Schmiedehandwerk be- 1) Baierlein, Nach und aus Indien. S. 253. 2) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 92. 3) Urgeschichte der Menschheit. S. 451.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/316>, abgerufen am 28.03.2024.