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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Der israelitische Monotheismus.
sticken. So thaten auch die Meisten, sie nützten das Exil zum
gesteigerten Lebensgewinn aus und priesen es wohl als gün-
stige Fügung, dass sie ihrem ärmlichen Einerlei entrissen worden
waren. Hätten alle in ihre neue Lage so nüchtern und welter-
fahren sich geschickt, so wäre vom Judenthum jetzt nichts mehr
übrig, als ein Völkername in den Keilschriften, den die heutige
Wissbegier hebr oder ähnlich lautend entziffern würde. Ein Name
mehr zu andern kalten Namen.

Der unverdorbene Kern des jüdischen Volkes vergass aber
nicht und vererbte auf das nächste und zweite Geschlecht
die Sehnsucht nach den Orten, wo er von besseren Regungen
durchschauert worden war. Wenn die Verbannten ihre neuen Ge-
bieter in der Nähe besahen, wenn das stärkere, klüger beherrschte,
von der Natur begünstigte, durch Geschick und technische Fertig-
keit bereicherte Volk dennoch durch die Albernheiten eines Bilder-
dienstes täglich sich erniedrigte, durften sie sich im Stillen gestehen,
dass sie noch immer das auserwählte Volk geblieben waren. Uns
aber, die wir den weiteren Gang der Geschichte überschauen, gleicht
das Exil nur der Krümmung einer Parabel um ihren Brennpunkt.
Nicht vorbei war es mit dem Judenthum sondern gerade das, was
ihm den höchsten Werth verliehen hatte, der Gedanke an die
Gotteseinheit, sollte nur die Richtung seiner Bahn zu höherer Ver-
klärung ändern. Das Unglück verhärtete die Juden nicht, sondern
stimmte sie, die selber ihr Brod mit Thränen assen, nur milder
gegen alles Leiden was sie um sich erblickten. Jeder Einzelne
unter uns der nach Klarheit gerungen hat, gelangt zu irgend einer
Welterklärung, die nicht bloss die Summe dessen ist was er durch
eigene Einsicht oder durch die Erfahrungen anderer sich ange-
eignet hat, sondern auch alles dessen, was an ihm vorüber und
über ihn hinweggegangen ist. Die historischen Schicksale eines
Volkes fallen mächtig ins Gewicht, wenn es eine eigene Religion
erschaffen, eine fremde annehmen, eine angenommene festhalten
soll. Ein leider allzufrüh uns entrissener Orientalist konnte daher
zeigen 1), dass bereits in den älteren Schriften des Talmud die
Neigung zur Milde und Menschlichkeit durchbreche, die das Christen-
thum vorzugsweise zu einer idealen Trostlehre der Gedrückten

1) Emanuel Deutsch im Quarterly Review. tom. CXXIII. Octbr. 1867.
p. 417.
20*

Der israelitische Monotheismus.
sticken. So thaten auch die Meisten, sie nützten das Exil zum
gesteigerten Lebensgewinn aus und priesen es wohl als gün-
stige Fügung, dass sie ihrem ärmlichen Einerlei entrissen worden
waren. Hätten alle in ihre neue Lage so nüchtern und welter-
fahren sich geschickt, so wäre vom Judenthum jetzt nichts mehr
übrig, als ein Völkername in den Keilschriften, den die heutige
Wissbegier hebr oder ähnlich lautend entziffern würde. Ein Name
mehr zu andern kalten Namen.

Der unverdorbene Kern des jüdischen Volkes vergass aber
nicht und vererbte auf das nächste und zweite Geschlecht
die Sehnsucht nach den Orten, wo er von besseren Regungen
durchschauert worden war. Wenn die Verbannten ihre neuen Ge-
bieter in der Nähe besahen, wenn das stärkere, klüger beherrschte,
von der Natur begünstigte, durch Geschick und technische Fertig-
keit bereicherte Volk dennoch durch die Albernheiten eines Bilder-
dienstes täglich sich erniedrigte, durften sie sich im Stillen gestehen,
dass sie noch immer das auserwählte Volk geblieben waren. Uns
aber, die wir den weiteren Gang der Geschichte überschauen, gleicht
das Exil nur der Krümmung einer Parabel um ihren Brennpunkt.
Nicht vorbei war es mit dem Judenthum sondern gerade das, was
ihm den höchsten Werth verliehen hatte, der Gedanke an die
Gotteseinheit, sollte nur die Richtung seiner Bahn zu höherer Ver-
klärung ändern. Das Unglück verhärtete die Juden nicht, sondern
stimmte sie, die selber ihr Brod mit Thränen assen, nur milder
gegen alles Leiden was sie um sich erblickten. Jeder Einzelne
unter uns der nach Klarheit gerungen hat, gelangt zu irgend einer
Welterklärung, die nicht bloss die Summe dessen ist was er durch
eigene Einsicht oder durch die Erfahrungen anderer sich ange-
eignet hat, sondern auch alles dessen, was an ihm vorüber und
über ihn hinweggegangen ist. Die historischen Schicksale eines
Volkes fallen mächtig ins Gewicht, wenn es eine eigene Religion
erschaffen, eine fremde annehmen, eine angenommene festhalten
soll. Ein leider allzufrüh uns entrissener Orientalist konnte daher
zeigen 1), dass bereits in den älteren Schriften des Talmud die
Neigung zur Milde und Menschlichkeit durchbreche, die das Christen-
thum vorzugsweise zu einer idealen Trostlehre der Gedrückten

1) Emanuel Deutsch im Quarterly Review. tom. CXXIII. Octbr. 1867.
p. 417.
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[307/0325] Der israelitische Monotheismus. sticken. So thaten auch die Meisten, sie nützten das Exil zum gesteigerten Lebensgewinn aus und priesen es wohl als gün- stige Fügung, dass sie ihrem ärmlichen Einerlei entrissen worden waren. Hätten alle in ihre neue Lage so nüchtern und welter- fahren sich geschickt, so wäre vom Judenthum jetzt nichts mehr übrig, als ein Völkername in den Keilschriften, den die heutige Wissbegier hebr oder ähnlich lautend entziffern würde. Ein Name mehr zu andern kalten Namen. Der unverdorbene Kern des jüdischen Volkes vergass aber nicht und vererbte auf das nächste und zweite Geschlecht die Sehnsucht nach den Orten, wo er von besseren Regungen durchschauert worden war. Wenn die Verbannten ihre neuen Ge- bieter in der Nähe besahen, wenn das stärkere, klüger beherrschte, von der Natur begünstigte, durch Geschick und technische Fertig- keit bereicherte Volk dennoch durch die Albernheiten eines Bilder- dienstes täglich sich erniedrigte, durften sie sich im Stillen gestehen, dass sie noch immer das auserwählte Volk geblieben waren. Uns aber, die wir den weiteren Gang der Geschichte überschauen, gleicht das Exil nur der Krümmung einer Parabel um ihren Brennpunkt. Nicht vorbei war es mit dem Judenthum sondern gerade das, was ihm den höchsten Werth verliehen hatte, der Gedanke an die Gotteseinheit, sollte nur die Richtung seiner Bahn zu höherer Ver- klärung ändern. Das Unglück verhärtete die Juden nicht, sondern stimmte sie, die selber ihr Brod mit Thränen assen, nur milder gegen alles Leiden was sie um sich erblickten. Jeder Einzelne unter uns der nach Klarheit gerungen hat, gelangt zu irgend einer Welterklärung, die nicht bloss die Summe dessen ist was er durch eigene Einsicht oder durch die Erfahrungen anderer sich ange- eignet hat, sondern auch alles dessen, was an ihm vorüber und über ihn hinweggegangen ist. Die historischen Schicksale eines Volkes fallen mächtig ins Gewicht, wenn es eine eigene Religion erschaffen, eine fremde annehmen, eine angenommene festhalten soll. Ein leider allzufrüh uns entrissener Orientalist konnte daher zeigen 1), dass bereits in den älteren Schriften des Talmud die Neigung zur Milde und Menschlichkeit durchbreche, die das Christen- thum vorzugsweise zu einer idealen Trostlehre der Gedrückten 1) Emanuel Deutsch im Quarterly Review. tom. CXXIII. Octbr. 1867. p. 417. 20*

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/325>, abgerufen am 29.03.2024.