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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Zone der Religionsstifter.
die sich ansiedelnden Völker früh zu sittlicher Anmuth und zar-
teren Gefühlen erwacht! Und haben nicht, als Europa in neue
Barbarei versank und religiöse Begeisterung plötzlich den heiligen
Orient öffnete, unsere Voreltern aus jenen milden Thälern von
neuem mildere Sitten heimgebracht? Die Dichterwerke der Griechen
und die rauheren Gesänge der nordischen Urvölker verdanken
grösstentheils ihren eigenthümlichen Charakter der Gestalt der
Pflanzen und Thiere, den Gebirgsthälern, die den Dichter um-
gaben, und der Luft, die ihn umwehte. Wer fühlt sich nicht, um
selbst nur an nahe Gegenstände zu erinnern, anders gestimmt in
dem dunklen Schatten der Buchen, auf Hügeln, die mit einzeln
stehenden Tannen bekränzt sind, oder auf der Grasflur, wo der
Wind in dem zitternden Laube der Birke säuselt? Melancholische,
ernst erhebende und fröhliche Bilder rufen diese vaterländischen
Pflanzengestalten in uns hervor. Der Einfluss der physischen Welt
auf die moralische, das geheimnissvolle Ineinanderwirken des Sinn-
lichen und Aussersinnlichen gibt dem Naturstudium, wenn man es
zu höheren Gesichtspunkten erhebt, einen eigenen noch zu wenig
erkannten Reiz."

Hier liegt also die verführerische Aufgabe vor uns, auf dem
Wege vorsichtiger Vergleiche zwischen den grössten Begebenheiten
in der menschlichen Gesellschaft und den Schauplätzen, auf welchen
sie sich zutrugen, einem innern Zusammenhange nachzuspüren.
Bei wem könnten wir uns aber besser vorbereiten für solche Unter-
suchungen als bei Thomas Buckle, der nicht bloss bei seinen
Landsleuten, sondern auch bei uns eine ungeschwächte Beliebtheit
noch geniesst und vielen als ein Born des klarsten Lichtes gilt?
Geben wir ihm Gehör, so wäre nichts einfacher und fasslicher,
als die Rückwirkungen des Wohnortes auf die Erscheinungen der
Gemüthswelt. Da, wo die Natur mit grossen Schreckmitteln den
Menschen beängstigt, wird die Einbildungskraft stärker entwickelt
werden als der Verstand, und dort wird der Wunderglaube am
üppigsten ins Kraut schiessen. Italien, Spanien und Portugal, sagt
Buckle1), werden in Europa unter allen Ländern von Erdbeben
am meisten heimgesucht; Erdbeben schüchtern das menschliche
Gemüth ein, folglich hat sich bei den Bewohnern Südeuropa's
zäher als anderwärts der Glaube an Eingriffe übersinnlicher Mächte

1) History of civilization in England. Leipzig 1865. vol. 1. p. 113. p. 121.

Die Zone der Religionsstifter.
die sich ansiedelnden Völker früh zu sittlicher Anmuth und zar-
teren Gefühlen erwacht! Und haben nicht, als Europa in neue
Barbarei versank und religiöse Begeisterung plötzlich den heiligen
Orient öffnete, unsere Voreltern aus jenen milden Thälern von
neuem mildere Sitten heimgebracht? Die Dichterwerke der Griechen
und die rauheren Gesänge der nordischen Urvölker verdanken
grösstentheils ihren eigenthümlichen Charakter der Gestalt der
Pflanzen und Thiere, den Gebirgsthälern, die den Dichter um-
gaben, und der Luft, die ihn umwehte. Wer fühlt sich nicht, um
selbst nur an nahe Gegenstände zu erinnern, anders gestimmt in
dem dunklen Schatten der Buchen, auf Hügeln, die mit einzeln
stehenden Tannen bekränzt sind, oder auf der Grasflur, wo der
Wind in dem zitternden Laube der Birke säuselt? Melancholische,
ernst erhebende und fröhliche Bilder rufen diese vaterländischen
Pflanzengestalten in uns hervor. Der Einfluss der physischen Welt
auf die moralische, das geheimnissvolle Ineinanderwirken des Sinn-
lichen und Aussersinnlichen gibt dem Naturstudium, wenn man es
zu höheren Gesichtspunkten erhebt, einen eigenen noch zu wenig
erkannten Reiz.“

Hier liegt also die verführerische Aufgabe vor uns, auf dem
Wege vorsichtiger Vergleiche zwischen den grössten Begebenheiten
in der menschlichen Gesellschaft und den Schauplätzen, auf welchen
sie sich zutrugen, einem innern Zusammenhange nachzuspüren.
Bei wem könnten wir uns aber besser vorbereiten für solche Unter-
suchungen als bei Thomas Buckle, der nicht bloss bei seinen
Landsleuten, sondern auch bei uns eine ungeschwächte Beliebtheit
noch geniesst und vielen als ein Born des klarsten Lichtes gilt?
Geben wir ihm Gehör, so wäre nichts einfacher und fasslicher,
als die Rückwirkungen des Wohnortes auf die Erscheinungen der
Gemüthswelt. Da, wo die Natur mit grossen Schreckmitteln den
Menschen beängstigt, wird die Einbildungskraft stärker entwickelt
werden als der Verstand, und dort wird der Wunderglaube am
üppigsten ins Kraut schiessen. Italien, Spanien und Portugal, sagt
Buckle1), werden in Europa unter allen Ländern von Erdbeben
am meisten heimgesucht; Erdbeben schüchtern das menschliche
Gemüth ein, folglich hat sich bei den Bewohnern Südeuropa’s
zäher als anderwärts der Glaube an Eingriffe übersinnlicher Mächte

1) History of civilization in England. Leipzig 1865. vol. 1. p. 113. p. 121.
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[325/0343] Die Zone der Religionsstifter. die sich ansiedelnden Völker früh zu sittlicher Anmuth und zar- teren Gefühlen erwacht! Und haben nicht, als Europa in neue Barbarei versank und religiöse Begeisterung plötzlich den heiligen Orient öffnete, unsere Voreltern aus jenen milden Thälern von neuem mildere Sitten heimgebracht? Die Dichterwerke der Griechen und die rauheren Gesänge der nordischen Urvölker verdanken grösstentheils ihren eigenthümlichen Charakter der Gestalt der Pflanzen und Thiere, den Gebirgsthälern, die den Dichter um- gaben, und der Luft, die ihn umwehte. Wer fühlt sich nicht, um selbst nur an nahe Gegenstände zu erinnern, anders gestimmt in dem dunklen Schatten der Buchen, auf Hügeln, die mit einzeln stehenden Tannen bekränzt sind, oder auf der Grasflur, wo der Wind in dem zitternden Laube der Birke säuselt? Melancholische, ernst erhebende und fröhliche Bilder rufen diese vaterländischen Pflanzengestalten in uns hervor. Der Einfluss der physischen Welt auf die moralische, das geheimnissvolle Ineinanderwirken des Sinn- lichen und Aussersinnlichen gibt dem Naturstudium, wenn man es zu höheren Gesichtspunkten erhebt, einen eigenen noch zu wenig erkannten Reiz.“ Hier liegt also die verführerische Aufgabe vor uns, auf dem Wege vorsichtiger Vergleiche zwischen den grössten Begebenheiten in der menschlichen Gesellschaft und den Schauplätzen, auf welchen sie sich zutrugen, einem innern Zusammenhange nachzuspüren. Bei wem könnten wir uns aber besser vorbereiten für solche Unter- suchungen als bei Thomas Buckle, der nicht bloss bei seinen Landsleuten, sondern auch bei uns eine ungeschwächte Beliebtheit noch geniesst und vielen als ein Born des klarsten Lichtes gilt? Geben wir ihm Gehör, so wäre nichts einfacher und fasslicher, als die Rückwirkungen des Wohnortes auf die Erscheinungen der Gemüthswelt. Da, wo die Natur mit grossen Schreckmitteln den Menschen beängstigt, wird die Einbildungskraft stärker entwickelt werden als der Verstand, und dort wird der Wunderglaube am üppigsten ins Kraut schiessen. Italien, Spanien und Portugal, sagt Buckle 1), werden in Europa unter allen Ländern von Erdbeben am meisten heimgesucht; Erdbeben schüchtern das menschliche Gemüth ein, folglich hat sich bei den Bewohnern Südeuropa’s zäher als anderwärts der Glaube an Eingriffe übersinnlicher Mächte 1) History of civilization in England. Leipzig 1865. vol. 1. p. 113. p. 121.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/343>, abgerufen am 16.04.2024.