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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Grössenverhältnisse des Beckens und der Gliedmassen.
Zeit hat Fritsch eine vergleichsweise reiche Anzahl von Becken
südafrikanischer Völker nach Europa gebracht, aber bei der ge-
ringen Beharrlichkeit der Merkmale es nicht gewagt, Typen auf-
zustellen. Er ist dabei auf einen Umstand gestossen, der wohl
geeignet ist, uns zu ernstem Nachdenken anzuregen. Unter den
europäischen Skeletten wird Weib und Mann an der Geräumigkeit
und Gestalt des Beckens mit ziemlicher Sicherheit erkannt. Das
Becken gehört daher unter die Geschlechtsmerkmale zweiter Ord-
nung. Bei Becken von Buschmännern dagegen könnte das weib-
liche mit einem männlichen verwechselt werden, und das Gleiche
gilt von den Hottentotten und Kafirn 1). Sollte diese Erscheinung
in andern Welttheilen sich bestätigen, so würden wir zu dem Satze
gelangen, dass die gänzliche Durchbildung der Geschlechtsunter-
schiede erst unter dem Schutze der höheren Gesittungen sich
vollziehe.

Die zahlreichsten Messungen, freilich nur weiblicher Becken,
verdanken wir Carl Martin, der längere Zeit in Brasilien als Arzt
thätig war und dort Negerinnen sowie eingeborne Frauen und
Mischlinge behandelte. Er hat die Maasse von 8 papuanischen,
2 uramerikanischen, 18 malayischen, 4 buschmännischen und 15
Negerfrauen mit den Mitteln aus den europäischen Befunden ver-
glichen. So weit aus diesem Schatz von anatomischen Urkunden
ein Ergebniss gezogen werden konnte, würden die Becken zer-
fallen in solche mit rundem Eingang bei Eingebornen Amerika's,
bei Malayen und Papuanen, und in solche mit querovalem Ein-
gang bei afrikanischen und europäischen Frauen. Rund heisst der
Eingan, wenn die Conjugata so gross oder fast so gross ist, wie
die andern Durchmesser, queroval dagegen, wenn sie um mehr
als zehn Procent von den queren und schrägen Durchmessern
übertroffen wird. Genauer lässt sich noch sagen, dass das Becken
der Europäerinnen die grösste Geräumigkeit und Breite mit wesent-
lich querovalem Eingange vereinige, das Becken der Negerin zwar
am Eingang gleich gestaltet, sonst aber kleiner und schmaler sei.
Entsprechend ihrer geringen Körpergrösse besitzen die Buschmann-
frauen das kleinste Becken unter allen Racen mit einem Eingang,
der manchmal stehend oval wird. Die malayischen Becken sind
schmal, der Eingang rund, nicht selten stehend oval. Die Becken

1) Fritsch, Eingeborne Südafrikas. S. 39. S. 299. S. 415.
Peschel, Völkerkunde. 6

Die Grössenverhältnisse des Beckens und der Gliedmassen.
Zeit hat Fritsch eine vergleichsweise reiche Anzahl von Becken
südafrikanischer Völker nach Europa gebracht, aber bei der ge-
ringen Beharrlichkeit der Merkmale es nicht gewagt, Typen auf-
zustellen. Er ist dabei auf einen Umstand gestossen, der wohl
geeignet ist, uns zu ernstem Nachdenken anzuregen. Unter den
europäischen Skeletten wird Weib und Mann an der Geräumigkeit
und Gestalt des Beckens mit ziemlicher Sicherheit erkannt. Das
Becken gehört daher unter die Geschlechtsmerkmale zweiter Ord-
nung. Bei Becken von Buschmännern dagegen könnte das weib-
liche mit einem männlichen verwechselt werden, und das Gleiche
gilt von den Hottentotten und Kafirn 1). Sollte diese Erscheinung
in andern Welttheilen sich bestätigen, so würden wir zu dem Satze
gelangen, dass die gänzliche Durchbildung der Geschlechtsunter-
schiede erst unter dem Schutze der höheren Gesittungen sich
vollziehe.

Die zahlreichsten Messungen, freilich nur weiblicher Becken,
verdanken wir Carl Martin, der längere Zeit in Brasilien als Arzt
thätig war und dort Negerinnen sowie eingeborne Frauen und
Mischlinge behandelte. Er hat die Maasse von 8 papuanischen,
2 uramerikanischen, 18 malayischen, 4 buschmännischen und 15
Negerfrauen mit den Mitteln aus den europäischen Befunden ver-
glichen. So weit aus diesem Schatz von anatomischen Urkunden
ein Ergebniss gezogen werden konnte, würden die Becken zer-
fallen in solche mit rundem Eingang bei Eingebornen Amerika’s,
bei Malayen und Papuanen, und in solche mit querovalem Ein-
gang bei afrikanischen und europäischen Frauen. Rund heisst der
Eingan, wenn die Conjugata so gross oder fast so gross ist, wie
die andern Durchmesser, queroval dagegen, wenn sie um mehr
als zehn Procent von den queren und schrägen Durchmessern
übertroffen wird. Genauer lässt sich noch sagen, dass das Becken
der Europäerinnen die grösste Geräumigkeit und Breite mit wesent-
lich querovalem Eingange vereinige, das Becken der Negerin zwar
am Eingang gleich gestaltet, sonst aber kleiner und schmaler sei.
Entsprechend ihrer geringen Körpergrösse besitzen die Buschmann-
frauen das kleinste Becken unter allen Racen mit einem Eingang,
der manchmal stehend oval wird. Die malayischen Becken sind
schmal, der Eingang rund, nicht selten stehend oval. Die Becken

1) Fritsch, Eingeborne Südafrikas. S. 39. S. 299. S. 415.
Peschel, Völkerkunde. 6
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[81/0099] Die Grössenverhältnisse des Beckens und der Gliedmassen. Zeit hat Fritsch eine vergleichsweise reiche Anzahl von Becken südafrikanischer Völker nach Europa gebracht, aber bei der ge- ringen Beharrlichkeit der Merkmale es nicht gewagt, Typen auf- zustellen. Er ist dabei auf einen Umstand gestossen, der wohl geeignet ist, uns zu ernstem Nachdenken anzuregen. Unter den europäischen Skeletten wird Weib und Mann an der Geräumigkeit und Gestalt des Beckens mit ziemlicher Sicherheit erkannt. Das Becken gehört daher unter die Geschlechtsmerkmale zweiter Ord- nung. Bei Becken von Buschmännern dagegen könnte das weib- liche mit einem männlichen verwechselt werden, und das Gleiche gilt von den Hottentotten und Kafirn 1). Sollte diese Erscheinung in andern Welttheilen sich bestätigen, so würden wir zu dem Satze gelangen, dass die gänzliche Durchbildung der Geschlechtsunter- schiede erst unter dem Schutze der höheren Gesittungen sich vollziehe. Die zahlreichsten Messungen, freilich nur weiblicher Becken, verdanken wir Carl Martin, der längere Zeit in Brasilien als Arzt thätig war und dort Negerinnen sowie eingeborne Frauen und Mischlinge behandelte. Er hat die Maasse von 8 papuanischen, 2 uramerikanischen, 18 malayischen, 4 buschmännischen und 15 Negerfrauen mit den Mitteln aus den europäischen Befunden ver- glichen. So weit aus diesem Schatz von anatomischen Urkunden ein Ergebniss gezogen werden konnte, würden die Becken zer- fallen in solche mit rundem Eingang bei Eingebornen Amerika’s, bei Malayen und Papuanen, und in solche mit querovalem Ein- gang bei afrikanischen und europäischen Frauen. Rund heisst der Eingan, wenn die Conjugata so gross oder fast so gross ist, wie die andern Durchmesser, queroval dagegen, wenn sie um mehr als zehn Procent von den queren und schrägen Durchmessern übertroffen wird. Genauer lässt sich noch sagen, dass das Becken der Europäerinnen die grösste Geräumigkeit und Breite mit wesent- lich querovalem Eingange vereinige, das Becken der Negerin zwar am Eingang gleich gestaltet, sonst aber kleiner und schmaler sei. Entsprechend ihrer geringen Körpergrösse besitzen die Buschmann- frauen das kleinste Becken unter allen Racen mit einem Eingang, der manchmal stehend oval wird. Die malayischen Becken sind schmal, der Eingang rund, nicht selten stehend oval. Die Becken 1) Fritsch, Eingeborne Südafrikas. S. 39. S. 299. S. 415. Peschel, Völkerkunde. 6

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/99>, abgerufen am 24.04.2024.