Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Rudi. O Mutter! Noch nie that mir meine
Armuth so weh, als jezt, da ich dir nichts geben
und nichts thun kann. Ach Gott! so krank und
elend leidest du, und trägst du meinen Mangel --

Die Mutter. Wenn man seinem Ende nahe
ist, so braucht man wenig mehr auf Erden, und
was man braucht, gibt der Vater im Himmel. Ich
danke ihm, Rudi; er stärkt mich in meiner nahen
Stunde.

Rudi. (in Thränen) Meynst du denn, Mut-
ter! du erholest dich nicht wieder?

Die Mutter. Nein, Rudi! Gewiß nicht.

Rudi. O mein Gott!

Die Mutter. Tröste dich, Rudi! Ich gehe
ins bessere Leben.

Rudi. (schluchzend) O Gott!

Die Mutter. Tröste dich, Rudi! Du warst
die Freude meiner Jugend, und der Trost meines
Alters. Und nun danke ich Gott! Deine Hände
werden jezt bald meine Augen schliessen. Dann
werde ich zu Gott kommen, und ich will für dich
beten, und es wird dir wohl gehen ewiglich. Denk
an mich, Rudi. Alles Leiden und aller Jammer
dieses Lebens, wenn sie überstanden sind, machen
einem nur wohl. Mich tröstet und mir ist wie heilig
alles, was ich überstanden habe, so gut als alle Lust
und Freude des Lebens. Ich danke Gott, für diese
frohe Erquickung der Tage meiner Kindheit; aber

wenn

Rudi. O Mutter! Noch nie that mir meine
Armuth ſo weh, als jezt, da ich dir nichts geben
und nichts thun kann. Ach Gott! ſo krank und
elend leideſt du, und traͤgſt du meinen Mangel —

Die Mutter. Wenn man ſeinem Ende nahe
iſt, ſo braucht man wenig mehr auf Erden, und
was man braucht, gibt der Vater im Himmel. Ich
danke ihm, Rudi; er ſtaͤrkt mich in meiner nahen
Stunde.

Rudi. (in Thraͤnen) Meynſt du denn, Mut-
ter! du erholeſt dich nicht wieder?

Die Mutter. Nein, Rudi! Gewiß nicht.

Rudi. O mein Gott!

Die Mutter. Troͤſte dich, Rudi! Ich gehe
ins beſſere Leben.

Rudi. (ſchluchzend) O Gott!

Die Mutter. Troͤſte dich, Rudi! Du warſt
die Freude meiner Jugend, und der Troſt meines
Alters. Und nun danke ich Gott! Deine Haͤnde
werden jezt bald meine Augen ſchlieſſen. Dann
werde ich zu Gott kommen, und ich will fuͤr dich
beten, und es wird dir wohl gehen ewiglich. Denk
an mich, Rudi. Alles Leiden und aller Jammer
dieſes Lebens, wenn ſie uͤberſtanden ſind, machen
einem nur wohl. Mich troͤſtet und mir iſt wie heilig
alles, was ich uͤberſtanden habe, ſo gut als alle Luſt
und Freude des Lebens. Ich danke Gott, fuͤr dieſe
frohe Erquickung der Tage meiner Kindheit; aber

wenn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0117" n="92"/>
          <p><hi rendition="#fr">Rudi.</hi> O Mutter! Noch nie that mir meine<lb/>
Armuth &#x017F;o weh, als jezt, da ich dir nichts geben<lb/>
und nichts thun kann. Ach Gott! &#x017F;o krank und<lb/>
elend leide&#x017F;t du, und tra&#x0364;g&#x017F;t du meinen Mangel &#x2014;</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Die Mutter.</hi> Wenn man &#x017F;einem Ende nahe<lb/>
i&#x017F;t, &#x017F;o braucht man wenig mehr auf Erden, und<lb/>
was man braucht, gibt der Vater im Himmel. Ich<lb/>
danke ihm, Rudi; er &#x017F;ta&#x0364;rkt mich in meiner nahen<lb/>
Stunde.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Rudi.</hi> (in Thra&#x0364;nen) Meyn&#x017F;t du denn, Mut-<lb/>
ter! du erhole&#x017F;t dich nicht wieder?</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Die Mutter.</hi> Nein, Rudi! Gewiß nicht.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Rudi.</hi> O mein Gott!</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Die Mutter.</hi> Tro&#x0364;&#x017F;te dich, Rudi! Ich gehe<lb/>
ins be&#x017F;&#x017F;ere Leben.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Rudi.</hi> (&#x017F;chluchzend) O Gott!</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Die Mutter.</hi> Tro&#x0364;&#x017F;te dich, Rudi! Du war&#x017F;t<lb/>
die Freude meiner Jugend, und der Tro&#x017F;t meines<lb/>
Alters. Und nun danke ich Gott! Deine Ha&#x0364;nde<lb/>
werden jezt bald meine Augen &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en. Dann<lb/>
werde ich zu Gott kommen, und ich will fu&#x0364;r dich<lb/>
beten, und es wird dir wohl gehen ewiglich. Denk<lb/>
an mich, Rudi. Alles Leiden und aller Jammer<lb/>
die&#x017F;es Lebens, wenn &#x017F;ie u&#x0364;ber&#x017F;tanden &#x017F;ind, machen<lb/>
einem nur wohl. Mich tro&#x0364;&#x017F;tet und mir i&#x017F;t wie heilig<lb/>
alles, was ich u&#x0364;ber&#x017F;tanden habe, &#x017F;o gut als alle Lu&#x017F;t<lb/>
und Freude des Lebens. Ich danke Gott, fu&#x0364;r die&#x017F;e<lb/>
frohe Erquickung der Tage meiner Kindheit; aber<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wenn</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0117] Rudi. O Mutter! Noch nie that mir meine Armuth ſo weh, als jezt, da ich dir nichts geben und nichts thun kann. Ach Gott! ſo krank und elend leideſt du, und traͤgſt du meinen Mangel — Die Mutter. Wenn man ſeinem Ende nahe iſt, ſo braucht man wenig mehr auf Erden, und was man braucht, gibt der Vater im Himmel. Ich danke ihm, Rudi; er ſtaͤrkt mich in meiner nahen Stunde. Rudi. (in Thraͤnen) Meynſt du denn, Mut- ter! du erholeſt dich nicht wieder? Die Mutter. Nein, Rudi! Gewiß nicht. Rudi. O mein Gott! Die Mutter. Troͤſte dich, Rudi! Ich gehe ins beſſere Leben. Rudi. (ſchluchzend) O Gott! Die Mutter. Troͤſte dich, Rudi! Du warſt die Freude meiner Jugend, und der Troſt meines Alters. Und nun danke ich Gott! Deine Haͤnde werden jezt bald meine Augen ſchlieſſen. Dann werde ich zu Gott kommen, und ich will fuͤr dich beten, und es wird dir wohl gehen ewiglich. Denk an mich, Rudi. Alles Leiden und aller Jammer dieſes Lebens, wenn ſie uͤberſtanden ſind, machen einem nur wohl. Mich troͤſtet und mir iſt wie heilig alles, was ich uͤberſtanden habe, ſo gut als alle Luſt und Freude des Lebens. Ich danke Gott, fuͤr dieſe frohe Erquickung der Tage meiner Kindheit; aber wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/117
Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/117>, abgerufen am 28.03.2024.