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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781.

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weinen, denn es geht mir an's Herz -- wie die
Menschheit im Staube der Erden zur Unsterblichkeit
reifet, und wie sie im Prunk und Tand der Erden
unreif verwelket.

Wege doch, Menschheit! wege doch den Werth
des Lebens auf dem Todbette des Menschen -- und
du, der du den Armen verachtest, bemitleidest, und
nicht kennest -- sage mir, ob der also sterben kann,
der unglücklich gelebt hat? Aber ich schweige; ich
will euch nicht lehren, Menschen! Ich hätte nur
diß gern, daß ihr selber die Augen aufthätet, und
selbst umsähet, wo Glück und Unglück, Segen und
Unsegen in der Welt ist.

Gertrud tröstete den armen Rudi, und sagte
ihm noch den letzten Wunsch der edeln Mutter,
den er in seinem Jammer nicht gehört hatte.

Der Rudi nimmt treuherzig ihre Hand -- Wie
mich die liebe Mutter reuet! wie sie so gut war!
Gertrud! gelt, du willst auch an ihre Bitte den-
ken?

Gertrud. Ich müßte ein Herz haben wie ein
Stein, wenn ich's vergessen könnte. Ich will an
deinen Kindern thun, was ich kann.

Rudi. Ach! Gott wird dir's vergelten, was
du an uns thun wirst.

Gertrud kehret sich gegen das Fenster, wischt
ihre Thränen vom Angesicht, hebt ihre Augen gen
Himmel, seufzet, nimmt dann den Rudeli und seine

Ge-

weinen, denn es geht mir an’s Herz — wie die
Menſchheit im Staube der Erden zur Unſterblichkeit
reifet, und wie ſie im Prunk und Tand der Erden
unreif verwelket.

Wege doch, Menſchheit! wege doch den Werth
des Lebens auf dem Todbette des Menſchen — und
du, der du den Armen verachteſt, bemitleideſt, und
nicht kenneſt — ſage mir, ob der alſo ſterben kann,
der ungluͤcklich gelebt hat? Aber ich ſchweige; ich
will euch nicht lehren, Menſchen! Ich haͤtte nur
diß gern, daß ihr ſelber die Augen aufthaͤtet, und
ſelbſt umſaͤhet, wo Gluͤck und Ungluͤck, Segen und
Unſegen in der Welt iſt.

Gertrud troͤſtete den armen Rudi, und ſagte
ihm noch den letzten Wunſch der edeln Mutter,
den er in ſeinem Jammer nicht gehoͤrt hatte.

Der Rudi nimmt treuherzig ihre Hand — Wie
mich die liebe Mutter reuet! wie ſie ſo gut war!
Gertrud! gelt, du willſt auch an ihre Bitte den-
ken?

Gertrud. Ich muͤßte ein Herz haben wie ein
Stein, wenn ich’s vergeſſen koͤnnte. Ich will an
deinen Kindern thun, was ich kann.

Rudi. Ach! Gott wird dir’s vergelten, was
du an uns thun wirſt.

Gertrud kehret ſich gegen das Fenſter, wiſcht
ihre Thraͤnen vom Angeſicht, hebt ihre Augen gen
Himmel, ſeufzet, nimmt dann den Rudeli und ſeine

Ge-
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[109/0134] weinen, denn es geht mir an’s Herz — wie die Menſchheit im Staube der Erden zur Unſterblichkeit reifet, und wie ſie im Prunk und Tand der Erden unreif verwelket. Wege doch, Menſchheit! wege doch den Werth des Lebens auf dem Todbette des Menſchen — und du, der du den Armen verachteſt, bemitleideſt, und nicht kenneſt — ſage mir, ob der alſo ſterben kann, der ungluͤcklich gelebt hat? Aber ich ſchweige; ich will euch nicht lehren, Menſchen! Ich haͤtte nur diß gern, daß ihr ſelber die Augen aufthaͤtet, und ſelbſt umſaͤhet, wo Gluͤck und Ungluͤck, Segen und Unſegen in der Welt iſt. Gertrud troͤſtete den armen Rudi, und ſagte ihm noch den letzten Wunſch der edeln Mutter, den er in ſeinem Jammer nicht gehoͤrt hatte. Der Rudi nimmt treuherzig ihre Hand — Wie mich die liebe Mutter reuet! wie ſie ſo gut war! Gertrud! gelt, du willſt auch an ihre Bitte den- ken? Gertrud. Ich muͤßte ein Herz haben wie ein Stein, wenn ich’s vergeſſen koͤnnte. Ich will an deinen Kindern thun, was ich kann. Rudi. Ach! Gott wird dir’s vergelten, was du an uns thun wirſt. Gertrud kehret ſich gegen das Fenſter, wiſcht ihre Thraͤnen vom Angeſicht, hebt ihre Augen gen Himmel, ſeufzet, nimmt dann den Rudeli und ſeine Ge-

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/134>, abgerufen am 25.04.2024.