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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781.

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§. 37.
Sie bringen einem armen Mann eine
Erbsbrühe.

Lienhard. Ist sie endlich ihres Elends los?

Gertrud. Ja, Gott Lob! aber du hättest sie
sollen sterben sehn; mein Lieber! Denk, sie ent-
deckte an ihrem Todestag, daß ihr Rudeli uns
Erdäpfel gestohlen hätte. Der Vater und der Knab
mußten zu mir kommen, und um Verzeihung bit-
ten. Sie ließ uns auch ausdrücklich in ihrem
Namen bitten, wir sollten es ihr verzeihen, daß
sie die Erdäpfel nicht zurück geben könne, und der
gute Rudi versprach so herzlich, daß er es dir ab-
verdienen wolle -- Denk, wie mir bey dem allem
war, mein Lieber! Ich lief zu der Sterbenden,
aber ich kann dir's nicht erzählen; es ist nicht aus-
zusprechen, mit welcher Wehmuth, wie innig ge-
kränkt sie mich noch einmal fragte, ob ich's ihnen
verziehen hätte; und da sie sah, daß mein Herz
gerührt war, empfahl sie mir ihre Kinder -- wie
sie das fast nicht thun und fast nicht wagen dürfte --
wie sie es bis auf den letsten Augenblick verspart,
und dann, da sie empfand, daß sie eilen müßte,

end-

§. 37.
Sie bringen einem armen Mann eine
Erbsbruͤhe.

Lienhard. Iſt ſie endlich ihres Elends los?

Gertrud. Ja, Gott Lob! aber du haͤtteſt ſie
ſollen ſterben ſehn; mein Lieber! Denk, ſie ent-
deckte an ihrem Todestag, daß ihr Rudeli uns
Erdaͤpfel geſtohlen haͤtte. Der Vater und der Knab
mußten zu mir kommen, und um Verzeihung bit-
ten. Sie ließ uns auch ausdruͤcklich in ihrem
Namen bitten, wir ſollten es ihr verzeihen, daß
ſie die Erdaͤpfel nicht zuruͤck geben koͤnne, und der
gute Rudi verſprach ſo herzlich, daß er es dir ab-
verdienen wolle — Denk, wie mir bey dem allem
war, mein Lieber! Ich lief zu der Sterbenden,
aber ich kann dir’s nicht erzaͤhlen; es iſt nicht aus-
zuſprechen, mit welcher Wehmuth, wie innig ge-
kraͤnkt ſie mich noch einmal fragte, ob ich’s ihnen
verziehen haͤtte; und da ſie ſah, daß mein Herz
geruͤhrt war, empfahl ſie mir ihre Kinder — wie
ſie das faſt nicht thun und faſt nicht wagen duͤrfte —
wie ſie es bis auf den letſten Augenblick verſpart,
und dann, da ſie empfand, daß ſie eilen muͤßte,

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[187/0212] §. 37. Sie bringen einem armen Mann eine Erbsbruͤhe. Lienhard. Iſt ſie endlich ihres Elends los? Gertrud. Ja, Gott Lob! aber du haͤtteſt ſie ſollen ſterben ſehn; mein Lieber! Denk, ſie ent- deckte an ihrem Todestag, daß ihr Rudeli uns Erdaͤpfel geſtohlen haͤtte. Der Vater und der Knab mußten zu mir kommen, und um Verzeihung bit- ten. Sie ließ uns auch ausdruͤcklich in ihrem Namen bitten, wir ſollten es ihr verzeihen, daß ſie die Erdaͤpfel nicht zuruͤck geben koͤnne, und der gute Rudi verſprach ſo herzlich, daß er es dir ab- verdienen wolle — Denk, wie mir bey dem allem war, mein Lieber! Ich lief zu der Sterbenden, aber ich kann dir’s nicht erzaͤhlen; es iſt nicht aus- zuſprechen, mit welcher Wehmuth, wie innig ge- kraͤnkt ſie mich noch einmal fragte, ob ich’s ihnen verziehen haͤtte; und da ſie ſah, daß mein Herz geruͤhrt war, empfahl ſie mir ihre Kinder — wie ſie das faſt nicht thun und faſt nicht wagen duͤrfte — wie ſie es bis auf den letſten Augenblick verſpart, und dann, da ſie empfand, daß ſie eilen muͤßte, end-

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/212>, abgerufen am 24.04.2024.