Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 68.
Die untergehende Sonne und ein ver-
lorner armer Tropf.

Die Sonne gieng jezt eben unter, und schien
noch mit ihren letzten Strahlen auf die Seite der
Anhöhe, auf der er eben saß. Um ihn her war
das tiefere Feld; und unten am Hügel alles schon
im Schatten.

Sie gieng aber herrlich und schön unter, ohne
Wind und ohne Gewölke, Gottes Sonne; und der
Vogt, der in ihre letzten herrlichen Strahlen, die auf
ihn fielen, hinein sah, sagte zu sich selber: Sie geht
doch schön unter, und staunte gegen sie hin, bis
sie hinter dem Berg war.

Jezt ist alles im Schatten, und bald ist's Nacht.
O mein Herz! Schatten, Nacht und Grausen ist
um dich her; dir scheint keine Sonne. So
mußte er zu sich selber sagen, und wollte, oder er
wollte nicht, denn der Gedanke schauerte ihm durch
seine Seele, und er kirrete mit den Zähnen -- an-
statt hinzufallen, und anzubeten den Herrn des
Himmels, der die Sonne aus der Nacht wieder
hervor ruft -- anstatt auf den Herrn zu hoffen,
der aus dem Staub errettet und aus den Tiefen

er-

§. 68.
Die untergehende Sonne und ein ver-
lorner armer Tropf.

Die Sonne gieng jezt eben unter, und ſchien
noch mit ihren letzten Strahlen auf die Seite der
Anhoͤhe, auf der er eben ſaß. Um ihn her war
das tiefere Feld; und unten am Huͤgel alles ſchon
im Schatten.

Sie gieng aber herrlich und ſchoͤn unter, ohne
Wind und ohne Gewoͤlke, Gottes Sonne; und der
Vogt, der in ihre letzten herrlichen Strahlen, die auf
ihn fielen, hinein ſah, ſagte zu ſich ſelber: Sie geht
doch ſchoͤn unter, und ſtaunte gegen ſie hin, bis
ſie hinter dem Berg war.

Jezt iſt alles im Schatten, und bald iſt’s Nacht.
O mein Herz! Schatten, Nacht und Grauſen iſt
um dich her; dir ſcheint keine Sonne. So
mußte er zu ſich ſelber ſagen, und wollte, oder er
wollte nicht, denn der Gedanke ſchauerte ihm durch
ſeine Seele, und er kirrete mit den Zaͤhnen — an-
ſtatt hinzufallen, und anzubeten den Herrn des
Himmels, der die Sonne aus der Nacht wieder
hervor ruft — anſtatt auf den Herrn zu hoffen,
der aus dem Staub errettet und aus den Tiefen

er-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0312" n="287"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>§. 68.<lb/><hi rendition="#b">Die untergehende Sonne und ein ver-<lb/>
lorner armer Tropf.</hi></head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>ie Sonne gieng jezt eben unter, und &#x017F;chien<lb/>
noch mit ihren letzten Strahlen auf die Seite der<lb/>
Anho&#x0364;he, auf der er eben &#x017F;aß. Um ihn her war<lb/>
das tiefere Feld; und unten am Hu&#x0364;gel alles &#x017F;chon<lb/>
im Schatten.</p><lb/>
          <p>Sie gieng aber herrlich und &#x017F;cho&#x0364;n unter, ohne<lb/>
Wind und ohne Gewo&#x0364;lke, Gottes Sonne; und der<lb/>
Vogt, der in ihre letzten herrlichen Strahlen, die auf<lb/>
ihn fielen, hinein &#x017F;ah, &#x017F;agte zu &#x017F;ich &#x017F;elber: Sie geht<lb/>
doch &#x017F;cho&#x0364;n unter, und &#x017F;taunte gegen &#x017F;ie hin, bis<lb/>
&#x017F;ie hinter dem Berg war.</p><lb/>
          <p>Jezt i&#x017F;t alles im Schatten, und bald i&#x017F;t&#x2019;s Nacht.<lb/>
O mein Herz! Schatten, Nacht und Grau&#x017F;en i&#x017F;t<lb/>
um dich her; dir &#x017F;cheint keine Sonne. So<lb/>
mußte er zu &#x017F;ich &#x017F;elber &#x017F;agen, und wollte, oder er<lb/>
wollte nicht, denn der Gedanke &#x017F;chauerte ihm durch<lb/>
&#x017F;eine Seele, und er kirrete mit den Za&#x0364;hnen &#x2014; an-<lb/>
&#x017F;tatt hinzufallen, und anzubeten den Herrn des<lb/>
Himmels, der die Sonne aus der Nacht wieder<lb/>
hervor ruft &#x2014; an&#x017F;tatt auf den Herrn zu hoffen,<lb/>
der aus dem Staub errettet und aus den Tiefen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">er-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[287/0312] §. 68. Die untergehende Sonne und ein ver- lorner armer Tropf. Die Sonne gieng jezt eben unter, und ſchien noch mit ihren letzten Strahlen auf die Seite der Anhoͤhe, auf der er eben ſaß. Um ihn her war das tiefere Feld; und unten am Huͤgel alles ſchon im Schatten. Sie gieng aber herrlich und ſchoͤn unter, ohne Wind und ohne Gewoͤlke, Gottes Sonne; und der Vogt, der in ihre letzten herrlichen Strahlen, die auf ihn fielen, hinein ſah, ſagte zu ſich ſelber: Sie geht doch ſchoͤn unter, und ſtaunte gegen ſie hin, bis ſie hinter dem Berg war. Jezt iſt alles im Schatten, und bald iſt’s Nacht. O mein Herz! Schatten, Nacht und Grauſen iſt um dich her; dir ſcheint keine Sonne. So mußte er zu ſich ſelber ſagen, und wollte, oder er wollte nicht, denn der Gedanke ſchauerte ihm durch ſeine Seele, und er kirrete mit den Zaͤhnen — an- ſtatt hinzufallen, und anzubeten den Herrn des Himmels, der die Sonne aus der Nacht wieder hervor ruft — anſtatt auf den Herrn zu hoffen, der aus dem Staub errettet und aus den Tiefen er-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/312
Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/312>, abgerufen am 29.03.2024.