Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

bin nicht unschuldig -- was will ich sagen? Nie-
mand wird ihn für den Kopf stossen -- und aussa-
gen, daß er mich zu allem verleitet hat -- O Ger-
trud! könnt ich's! dörft ich's! wie gerne wollt
ich's! Aber thät ich's und mißlung's, denk, wie
würde er sich rächen.

Gertrud. Aber auch wenn du schweigst, rich-
tet er dich unausweichlich zu Grunde. Lienhard,
denk an deine Kinder und gehe -- diese Unruhe
unsers Herzens muß enden -- gehe oder ich gehe.

Lienhard. -- O Gertrud! ich darf nicht!
Darfst du's, ach Gott! Gertrud! ach Gott!
darfst du's, so gehe schnell hin zu Arner -- und
sag ihm alles --

Ja, ich will gehen, sagt Gertrud -- und schlief
keine Stunde in der Nacht -- aber sie betete in der
schlaflosen Nacht -- und ward immer stärker und
entschlossener, zu gehen zu Arner, dem Herrn des
Orts --

Und am frühen Morgen nahm sie den Säug-
ling, der wie eine Rose blühete, und gieng zwo
Stunden weit zum Schlosse des Junkers.

Arner saß eben bey seiner Linde, vor der Pforte
des Schlosses, als Gertrud sich ihm nahete -- Er
sah sie -- er sahe den Säugling auf ihrem Arme --
und Wehmuth und Leiden und getrocknete Zähren
auf ihrem Antlitz --

Was

bin nicht unſchuldig — was will ich ſagen? Nie-
mand wird ihn fuͤr den Kopf ſtoſſen — und ausſa-
gen, daß er mich zu allem verleitet hat — O Ger-
trud! koͤnnt ich’s! doͤrft ich’s! wie gerne wollt
ich’s! Aber thaͤt ich’s und mißlung’s, denk, wie
wuͤrde er ſich raͤchen.

Gertrud. Aber auch wenn du ſchweigſt, rich-
tet er dich unausweichlich zu Grunde. Lienhard,
denk an deine Kinder und gehe — dieſe Unruhe
unſers Herzens muß enden — gehe oder ich gehe.

Lienhard. — O Gertrud! ich darf nicht!
Darfſt du’s, ach Gott! Gertrud! ach Gott!
darfſt du’s, ſo gehe ſchnell hin zu Arner — und
ſag ihm alles —

Ja, ich will gehen, ſagt Gertrud — und ſchlief
keine Stunde in der Nacht — aber ſie betete in der
ſchlafloſen Nacht — und ward immer ſtaͤrker und
entſchloſſener, zu gehen zu Arner, dem Herrn des
Orts —

Und am fruͤhen Morgen nahm ſie den Saͤug-
ling, der wie eine Roſe bluͤhete, und gieng zwo
Stunden weit zum Schloſſe des Junkers.

Arner ſaß eben bey ſeiner Linde, vor der Pforte
des Schloſſes, als Gertrud ſich ihm nahete — Er
ſah ſie — er ſahe den Saͤugling auf ihrem Arme —
und Wehmuth und Leiden und getrocknete Zaͤhren
auf ihrem Antlitz —

Was
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0034" n="11"/>
bin nicht un&#x017F;chuldig &#x2014; was will ich &#x017F;agen? Nie-<lb/>
mand wird ihn fu&#x0364;r den Kopf &#x017F;to&#x017F;&#x017F;en &#x2014; und aus&#x017F;a-<lb/>
gen, daß er mich zu allem verleitet hat &#x2014; O Ger-<lb/>
trud! ko&#x0364;nnt ich&#x2019;s! do&#x0364;rft ich&#x2019;s! wie gerne wollt<lb/>
ich&#x2019;s! Aber tha&#x0364;t ich&#x2019;s und mißlung&#x2019;s, denk, wie<lb/>
wu&#x0364;rde er &#x017F;ich ra&#x0364;chen.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Gertrud.</hi> Aber auch wenn du &#x017F;chweig&#x017F;t, rich-<lb/>
tet er dich unausweichlich zu Grunde. Lienhard,<lb/>
denk an deine Kinder und gehe &#x2014; die&#x017F;e Unruhe<lb/>
un&#x017F;ers Herzens muß enden &#x2014; gehe oder ich gehe.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Lienhard.</hi> &#x2014; O Gertrud! ich darf nicht!<lb/>
Darf&#x017F;t du&#x2019;s, ach Gott! Gertrud! ach Gott!<lb/>
darf&#x017F;t du&#x2019;s, &#x017F;o gehe &#x017F;chnell hin zu Arner &#x2014; und<lb/>
&#x017F;ag ihm alles &#x2014;</p><lb/>
          <p>Ja, ich will gehen, &#x017F;agt Gertrud &#x2014; und &#x017F;chlief<lb/>
keine Stunde in der Nacht &#x2014; aber &#x017F;ie betete in der<lb/>
&#x017F;chlaflo&#x017F;en Nacht &#x2014; und ward immer &#x017F;ta&#x0364;rker und<lb/>
ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ener, zu gehen zu Arner, dem Herrn des<lb/>
Orts &#x2014;</p><lb/>
          <p>Und am fru&#x0364;hen Morgen nahm &#x017F;ie den Sa&#x0364;ug-<lb/>
ling, der wie eine Ro&#x017F;e blu&#x0364;hete, und gieng zwo<lb/>
Stunden weit zum Schlo&#x017F;&#x017F;e des Junkers.</p><lb/>
          <p>Arner &#x017F;aß eben bey &#x017F;einer Linde, vor der Pforte<lb/>
des Schlo&#x017F;&#x017F;es, als Gertrud &#x017F;ich ihm nahete &#x2014; Er<lb/>
&#x017F;ah &#x017F;ie &#x2014; er &#x017F;ahe den Sa&#x0364;ugling auf ihrem Arme &#x2014;<lb/>
und Wehmuth und Leiden und getrocknete Za&#x0364;hren<lb/>
auf ihrem Antlitz &#x2014;</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Was</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[11/0034] bin nicht unſchuldig — was will ich ſagen? Nie- mand wird ihn fuͤr den Kopf ſtoſſen — und ausſa- gen, daß er mich zu allem verleitet hat — O Ger- trud! koͤnnt ich’s! doͤrft ich’s! wie gerne wollt ich’s! Aber thaͤt ich’s und mißlung’s, denk, wie wuͤrde er ſich raͤchen. Gertrud. Aber auch wenn du ſchweigſt, rich- tet er dich unausweichlich zu Grunde. Lienhard, denk an deine Kinder und gehe — dieſe Unruhe unſers Herzens muß enden — gehe oder ich gehe. Lienhard. — O Gertrud! ich darf nicht! Darfſt du’s, ach Gott! Gertrud! ach Gott! darfſt du’s, ſo gehe ſchnell hin zu Arner — und ſag ihm alles — Ja, ich will gehen, ſagt Gertrud — und ſchlief keine Stunde in der Nacht — aber ſie betete in der ſchlafloſen Nacht — und ward immer ſtaͤrker und entſchloſſener, zu gehen zu Arner, dem Herrn des Orts — Und am fruͤhen Morgen nahm ſie den Saͤug- ling, der wie eine Roſe bluͤhete, und gieng zwo Stunden weit zum Schloſſe des Junkers. Arner ſaß eben bey ſeiner Linde, vor der Pforte des Schloſſes, als Gertrud ſich ihm nahete — Er ſah ſie — er ſahe den Saͤugling auf ihrem Arme — und Wehmuth und Leiden und getrocknete Zaͤhren auf ihrem Antlitz — Was

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/34
Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/34>, abgerufen am 25.04.2024.