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Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853.

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B. Ein zweites, dem soeben erzählten als Gegenstück zu
erwähnendes äusserst wichtiges Moment ist folgendes:

Da wir wissen, dass ein sensitiver Nerv nur in einem Punkte
mit dem Sensorium communiziren kann, so müssen alle Bewe¬
gungen der Faser, wo dieselbe auch getroffen wird, für das
Sensorium gleichwerthig sein, d. h. ihm einen bestimmten Em¬
pfindungseindruck geben, welcher dahin bezogen wird, woher
gewöhnlich die Erregung des Nerven auszugehen pflegt. Es ist
uns hiermit der Begriff der Excentricität der sensitiven Fasern
gegeben, dessen Erörterung hier nicht an der Stelle ist. Wenn
nun das Gehirn das ausschliessliche Organ des Sensoriums ist,
so folgt, dass alle Empfindungsfasern nach dem Gehirne empor¬
steigen müssen. Denn eine Empfindungsfaser kann nicht an
einem Orte enden, wo keine Empfindung ist. Hieraus folgt nun,
dass auf einem Rückenmarksdurchschnitte alle Empfindungs¬
fasern liegen, welche in dem unter der Trennung gelegenen
Körpertheile sich verbreiten. Aus dem Gesetze der Excentrici¬
tät folgt aber, dass bei Rückenmarksrupturen, Wirbelfracturen,
Wirbeldislocationen und anderen Verletzungen, wodurch die
Continuität des Markes zerstört wird, von den zerrissenen Faser¬
enden aus dem Sensorium ein Schmerz in den unter der Tren¬
nung gelegenen Körpertheilen erwachsen müsse. Wenn aber
die Trennung des Dorsalmarks z. B. etwas mehr nach Oben
gelegen ist, so empfindet der Kranke nie Schmerzen
in den Beinen
. Ich habe eine sehr reiche Zahl von Fällen
der Art in den verschiedenen Zeitschriften verglichen und ge¬
funden, dass die Kranken über Schmerzen klagen, welche gür¬
telförmig den Körper in dem Niveau der Verletzung umgeben,
was allerdings excentrische Erscheinungen sind, nie aber
klagten die Kranken bei einer Theilung des höher
gelegenen Dorsalmarkes über Schmerzen in den
Beinen
. Das deutet darauf hin, dass auch die Empfindungs¬
faser nicht im Gehirn, sondern im Mark endet.

Es lässt sich unstreitig auch noch von anderen Gesichtspunk¬
ten die sensorische Function des Rückenmarkes erkennen. Hierher

9 *

B. Ein zweites, dem soeben erzählten als Gegenstück zu
erwähnendes äusserst wichtiges Moment ist folgendes:

Da wir wissen, dass ein sensitiver Nerv nur in einem Punkte
mit dem Sensorium communiziren kann, so müssen alle Bewe¬
gungen der Faser, wo dieselbe auch getroffen wird, für das
Sensorium gleichwerthig sein, d. h. ihm einen bestimmten Em¬
pfindungseindruck geben, welcher dahin bezogen wird, woher
gewöhnlich die Erregung des Nerven auszugehen pflegt. Es ist
uns hiermit der Begriff der Excentricität der sensitiven Fasern
gegeben, dessen Erörterung hier nicht an der Stelle ist. Wenn
nun das Gehirn das ausschliessliche Organ des Sensoriums ist,
so folgt, dass alle Empfindungsfasern nach dem Gehirne empor¬
steigen müssen. Denn eine Empfindungsfaser kann nicht an
einem Orte enden, wo keine Empfindung ist. Hieraus folgt nun,
dass auf einem Rückenmarksdurchschnitte alle Empfindungs¬
fasern liegen, welche in dem unter der Trennung gelegenen
Körpertheile sich verbreiten. Aus dem Gesetze der Excentrici¬
tät folgt aber, dass bei Rückenmarksrupturen, Wirbelfracturen,
Wirbeldislocationen und anderen Verletzungen, wodurch die
Continuität des Markes zerstört wird, von den zerrissenen Faser¬
enden aus dem Sensorium ein Schmerz in den unter der Tren¬
nung gelegenen Körpertheilen erwachsen müsse. Wenn aber
die Trennung des Dorsalmarks z. B. etwas mehr nach Oben
gelegen ist, so empfindet der Kranke nie Schmerzen
in den Beinen
. Ich habe eine sehr reiche Zahl von Fällen
der Art in den verschiedenen Zeitschriften verglichen und ge¬
funden, dass die Kranken über Schmerzen klagen, welche gür¬
telförmig den Körper in dem Niveau der Verletzung umgeben,
was allerdings excentrische Erscheinungen sind, nie aber
klagten die Kranken bei einer Theilung des höher
gelegenen Dorsalmarkes über Schmerzen in den
Beinen
. Das deutet darauf hin, dass auch die Empfindungs¬
faser nicht im Gehirn, sondern im Mark endet.

Es lässt sich unstreitig auch noch von anderen Gesichtspunk¬
ten die sensorische Function des Rückenmarkes erkennen. Hierher

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[131/0153] B. Ein zweites, dem soeben erzählten als Gegenstück zu erwähnendes äusserst wichtiges Moment ist folgendes: Da wir wissen, dass ein sensitiver Nerv nur in einem Punkte mit dem Sensorium communiziren kann, so müssen alle Bewe¬ gungen der Faser, wo dieselbe auch getroffen wird, für das Sensorium gleichwerthig sein, d. h. ihm einen bestimmten Em¬ pfindungseindruck geben, welcher dahin bezogen wird, woher gewöhnlich die Erregung des Nerven auszugehen pflegt. Es ist uns hiermit der Begriff der Excentricität der sensitiven Fasern gegeben, dessen Erörterung hier nicht an der Stelle ist. Wenn nun das Gehirn das ausschliessliche Organ des Sensoriums ist, so folgt, dass alle Empfindungsfasern nach dem Gehirne empor¬ steigen müssen. Denn eine Empfindungsfaser kann nicht an einem Orte enden, wo keine Empfindung ist. Hieraus folgt nun, dass auf einem Rückenmarksdurchschnitte alle Empfindungs¬ fasern liegen, welche in dem unter der Trennung gelegenen Körpertheile sich verbreiten. Aus dem Gesetze der Excentrici¬ tät folgt aber, dass bei Rückenmarksrupturen, Wirbelfracturen, Wirbeldislocationen und anderen Verletzungen, wodurch die Continuität des Markes zerstört wird, von den zerrissenen Faser¬ enden aus dem Sensorium ein Schmerz in den unter der Tren¬ nung gelegenen Körpertheilen erwachsen müsse. Wenn aber die Trennung des Dorsalmarks z. B. etwas mehr nach Oben gelegen ist, so empfindet der Kranke nie Schmerzen in den Beinen. Ich habe eine sehr reiche Zahl von Fällen der Art in den verschiedenen Zeitschriften verglichen und ge¬ funden, dass die Kranken über Schmerzen klagen, welche gür¬ telförmig den Körper in dem Niveau der Verletzung umgeben, was allerdings excentrische Erscheinungen sind, nie aber klagten die Kranken bei einer Theilung des höher gelegenen Dorsalmarkes über Schmerzen in den Beinen. Das deutet darauf hin, dass auch die Empfindungs¬ faser nicht im Gehirn, sondern im Mark endet. Es lässt sich unstreitig auch noch von anderen Gesichtspunk¬ ten die sensorische Function des Rückenmarkes erkennen. Hierher 9 *

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Zitationshilfe: Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/153>, abgerufen am 28.03.2024.