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Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

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nach mathematischer Lehr-Art.
Freude verringert sich da um ein merkliches,
wenn man dieses gewahr wird. Besser wäre
es, andere unterliessen die fleißige Lesung poeti-
scher Schriften: So könnte man oft trotzen und
braviren, als wenn man etwas aus eigenem
Kopfe erfunden,
da mans doch andern abge-
borget
hat.

Anderer Lehrsatz.

§ 20. Es gehört, bey Lesung der Poeten,
ein gesundes Nachdenken, damit man nicht
die edle Reimschmiede-Kunst mit der gezwun-
genen neuen Dichter-Kunst vermenge.

Erweis.

Die edle Reimschmiede-Kunst ist frey und
ungebunden (§ 11); die neue Poesie aber bin-
det sich genau an die Construction, pedes, Ce-
sur und Scansion. Wenn demnach ein Reim-
schmied sich zu sehr an die pedes, Cesur, Con-
struction und Scansion bände: So schlüge er
auf die Seite der neuen Poeten. Da nun aber
die neue Poesie und Reimschmiede-Kunst einan-
der schnurstracks entgegen (per experient.):
So hat man die Poeten genau zu examiniren,
auf welche Seite sie geneigt, um zu erforschen,
ob es neue Poeten oder edle Reim-Schmiede
sind; welches das erste war.

Da nun aber, bey Unterlassung solches Nach-
denkens, einer endlich selber nicht wissen würde,
ob er ein Reimschmied oder neuer Poete wäre:
So ist die Ungebundenheit in Reimen das Au-

genmerk,
B 5

nach mathematiſcher Lehr-Art.
Freude verringert ſich da um ein merkliches,
wenn man dieſes gewahr wird. Beſſer waͤre
es, andere unterlieſſen die fleißige Leſung poeti-
ſcher Schriften: So koͤnnte man oft trotzen und
braviren, als wenn man etwas aus eigenem
Kopfe erfunden,
da mans doch andern abge-
borget
hat.

Anderer Lehrſatz.

§ 20. Es gehoͤrt, bey Leſung der Poeten,
ein geſundes Nachdenken, damit man nicht
die edle Reimſchmiede-Kunſt mit der gezwun-
genen neuen Dichter-Kunſt vermenge.

Erweis.

Die edle Reimſchmiede-Kunſt iſt frey und
ungebunden (§ 11); die neue Poeſie aber bin-
det ſich genau an die Conſtruction, pedes, Ce-
ſur und Scanſion. Wenn demnach ein Reim-
ſchmied ſich zu ſehr an die pedes, Ceſur, Con-
ſtruction und Scanſion baͤnde: So ſchluͤge er
auf die Seite der neuen Poeten. Da nun aber
die neue Poeſie und Reimſchmiede-Kunſt einan-
der ſchnurſtracks entgegen (per experient.):
So hat man die Poeten genau zu examiniren,
auf welche Seite ſie geneigt, um zu erforſchen,
ob es neue Poeten oder edle Reim-Schmiede
ſind; welches das erſte war.

Da nun aber, bey Unterlaſſung ſolches Nach-
denkens, einer endlich ſelber nicht wiſſen wuͤrde,
ob er ein Reimſchmied oder neuer Poete waͤre:
So iſt die Ungebundenheit in Reimen das Au-

genmerk,
B 5
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[25/0033] nach mathematiſcher Lehr-Art. Freude verringert ſich da um ein merkliches, wenn man dieſes gewahr wird. Beſſer waͤre es, andere unterlieſſen die fleißige Leſung poeti- ſcher Schriften: So koͤnnte man oft trotzen und braviren, als wenn man etwas aus eigenem Kopfe erfunden, da mans doch andern abge- borget hat. Anderer Lehrſatz. § 20. Es gehoͤrt, bey Leſung der Poeten, ein geſundes Nachdenken, damit man nicht die edle Reimſchmiede-Kunſt mit der gezwun- genen neuen Dichter-Kunſt vermenge. Erweis. Die edle Reimſchmiede-Kunſt iſt frey und ungebunden (§ 11); die neue Poeſie aber bin- det ſich genau an die Conſtruction, pedes, Ce- ſur und Scanſion. Wenn demnach ein Reim- ſchmied ſich zu ſehr an die pedes, Ceſur, Con- ſtruction und Scanſion baͤnde: So ſchluͤge er auf die Seite der neuen Poeten. Da nun aber die neue Poeſie und Reimſchmiede-Kunſt einan- der ſchnurſtracks entgegen (per experient.): So hat man die Poeten genau zu examiniren, auf welche Seite ſie geneigt, um zu erforſchen, ob es neue Poeten oder edle Reim-Schmiede ſind; welches das erſte war. Da nun aber, bey Unterlaſſung ſolches Nach- denkens, einer endlich ſelber nicht wiſſen wuͤrde, ob er ein Reimſchmied oder neuer Poete waͤre: So iſt die Ungebundenheit in Reimen das Au- genmerk, B 5

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Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/33>, abgerufen am 28.03.2024.