Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

Bild:
<< vorherige Seite

vor der erhabenen Dichterey.
Vorhang oder Flohr davor ziehet. Jch frage
aber: Ob das natürlich sey, wenn ich ein Ding
so beschreiben soll, wie es vor mir lieget, und
es hat keinen Flohr, der gewisse Theile verdek-
ket, ich wollte aber sprechen: Es sey ein Flohr
davor?
Daher unsere Grobschmieds-Poeten
ihre derben Einfälle so lange auf den Amboß
bringen, bis die Ohren der Zuhörer angewöhnet
werden, den rauhen Schall zu hören. Die
phantastischen Reim-Schmiede aber folgen ei-
ner ungemessenen ausschweifenden Einbildungs-
Kraft. Es schicken sich in die Gedichte der krie-
chenden Poeten solche abentheuerliche Erdich-
tungen,
die alle Contes de Fees und tausend
Viertelstunden weit übertreffen. Muß man
die Reime zwingen, daß es oft heisset: Reim
dich, oder ich freß dich:
Warum sollte man
nicht auch die Einfälle zwingen, einem zu Ge-
bote zu stehen? Die Gedanken dürfen sich
nicht zusammen reimen, sondern nur die Syl-
ben.
Daher hat keine Wissenschaft ein so wei-
tes unumschränktes Gebiete,
als ein Reim-
Schmied und kriechender Poete.

Sechstes Probestück.
Eine unumstößliche Widerlegung von des
Horaz Buche de arte poetica.

Es gehet mir, meine Herren, hart an, daß
ich mich mit dem längst vermoderten Horaz nun
noch erst herum tummeln, und seine Urne, als

den

vor der erhabenen Dichterey.
Vorhang oder Flohr davor ziehet. Jch frage
aber: Ob das natuͤrlich ſey, wenn ich ein Ding
ſo beſchreiben ſoll, wie es vor mir lieget, und
es hat keinen Flohr, der gewiſſe Theile verdek-
ket, ich wollte aber ſprechen: Es ſey ein Flohr
davor?
Daher unſere Grobſchmieds-Poeten
ihre derben Einfaͤlle ſo lange auf den Amboß
bringen, bis die Ohren der Zuhoͤrer angewoͤhnet
werden, den rauhen Schall zu hoͤren. Die
phantaſtiſchen Reim-Schmiede aber folgen ei-
ner ungemeſſenen ausſchweifenden Einbildungs-
Kraft. Es ſchicken ſich in die Gedichte der krie-
chenden Poeten ſolche abentheuerliche Erdich-
tungen,
die alle Contes de Fées und tauſend
Viertelſtunden weit uͤbertreffen. Muß man
die Reime zwingen, daß es oft heiſſet: Reim
dich, oder ich freß dich:
Warum ſollte man
nicht auch die Einfaͤlle zwingen, einem zu Ge-
bote zu ſtehen? Die Gedanken duͤrfen ſich
nicht zuſammen reimen, ſondern nur die Syl-
ben.
Daher hat keine Wiſſenſchaft ein ſo wei-
tes unumſchraͤnktes Gebiete,
als ein Reim-
Schmied und kriechender Poete.

Sechſtes Probeſtuͤck.
Eine unumſtoͤßliche Widerlegung von des
Horaz Buche de arte poëtica.

Es gehet mir, meine Herren, hart an, daß
ich mich mit dem laͤngſt vermoderten Horaz nun
noch erſt herum tummeln, und ſeine Urne, als

den
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0167" n="159"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">vor der erhabenen Dichterey.</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">Vorhang</hi> oder <hi rendition="#fr">Flohr</hi> davor ziehet. Jch frage<lb/>
aber: Ob das <hi rendition="#fr">natu&#x0364;rlich</hi> &#x017F;ey, wenn ich ein Ding<lb/>
&#x017F;o be&#x017F;chreiben &#x017F;oll, wie es <hi rendition="#fr">vor mir lieget,</hi> und<lb/>
es hat <hi rendition="#fr">keinen Flohr,</hi> der gewi&#x017F;&#x017F;e Theile verdek-<lb/>
ket, ich wollte aber &#x017F;prechen: <hi rendition="#fr">Es &#x017F;ey ein Flohr<lb/>
davor?</hi> Daher un&#x017F;ere <hi rendition="#fr">Grob&#x017F;chmieds-Poeten</hi><lb/>
ihre derben Einfa&#x0364;lle &#x017F;o lange auf den Amboß<lb/>
bringen, bis die Ohren der Zuho&#x0364;rer angewo&#x0364;hnet<lb/>
werden, den rauhen Schall zu ho&#x0364;ren. Die<lb/><hi rendition="#fr">phanta&#x017F;ti&#x017F;chen Reim-Schmiede</hi> aber folgen ei-<lb/>
ner ungeme&#x017F;&#x017F;enen aus&#x017F;chweifenden Einbildungs-<lb/>
Kraft. Es &#x017F;chicken &#x017F;ich in die Gedichte der krie-<lb/>
chenden Poeten &#x017F;olche <hi rendition="#fr">abentheuerliche Erdich-<lb/>
tungen,</hi> die <hi rendition="#fr">alle</hi> <hi rendition="#aq">Contes de Fées</hi> und tau&#x017F;end<lb/>
Viertel&#x017F;tunden weit u&#x0364;bertreffen. Muß man<lb/>
die <hi rendition="#fr">Reime</hi> zwingen, daß es oft hei&#x017F;&#x017F;et: <hi rendition="#fr">Reim<lb/>
dich, oder ich freß dich:</hi> Warum &#x017F;ollte man<lb/>
nicht auch die <hi rendition="#fr">Einfa&#x0364;lle</hi> zwingen, einem zu Ge-<lb/>
bote zu &#x017F;tehen? Die <hi rendition="#fr">Gedanken</hi> du&#x0364;rfen &#x017F;ich<lb/>
nicht <hi rendition="#fr">zu&#x017F;ammen reimen,</hi> &#x017F;ondern nur die <hi rendition="#fr">Syl-<lb/>
ben.</hi> Daher hat keine Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft ein &#x017F;o <hi rendition="#fr">wei-<lb/>
tes unum&#x017F;chra&#x0364;nktes Gebiete,</hi> als ein Reim-<lb/>
Schmied und kriechender Poete.</p>
      </div><lb/>
      <div n="1">
        <head><hi rendition="#b">Sech&#x017F;tes Probe&#x017F;tu&#x0364;ck.</hi><lb/>
Eine unum&#x017F;to&#x0364;ßliche Widerlegung von des<lb/>
Horaz Buche <hi rendition="#aq">de arte poëtica.</hi></head><lb/>
        <p>Es gehet mir, <hi rendition="#fr">meine Herren,</hi> hart an, daß<lb/>
ich mich mit dem la&#x0364;ng&#x017F;t vermoderten <hi rendition="#fr">Horaz</hi> nun<lb/>
noch er&#x017F;t herum tummeln, und &#x017F;eine <hi rendition="#fr">Urne,</hi> als<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0167] vor der erhabenen Dichterey. Vorhang oder Flohr davor ziehet. Jch frage aber: Ob das natuͤrlich ſey, wenn ich ein Ding ſo beſchreiben ſoll, wie es vor mir lieget, und es hat keinen Flohr, der gewiſſe Theile verdek- ket, ich wollte aber ſprechen: Es ſey ein Flohr davor? Daher unſere Grobſchmieds-Poeten ihre derben Einfaͤlle ſo lange auf den Amboß bringen, bis die Ohren der Zuhoͤrer angewoͤhnet werden, den rauhen Schall zu hoͤren. Die phantaſtiſchen Reim-Schmiede aber folgen ei- ner ungemeſſenen ausſchweifenden Einbildungs- Kraft. Es ſchicken ſich in die Gedichte der krie- chenden Poeten ſolche abentheuerliche Erdich- tungen, die alle Contes de Fées und tauſend Viertelſtunden weit uͤbertreffen. Muß man die Reime zwingen, daß es oft heiſſet: Reim dich, oder ich freß dich: Warum ſollte man nicht auch die Einfaͤlle zwingen, einem zu Ge- bote zu ſtehen? Die Gedanken duͤrfen ſich nicht zuſammen reimen, ſondern nur die Syl- ben. Daher hat keine Wiſſenſchaft ein ſo wei- tes unumſchraͤnktes Gebiete, als ein Reim- Schmied und kriechender Poete. Sechſtes Probeſtuͤck. Eine unumſtoͤßliche Widerlegung von des Horaz Buche de arte poëtica. Es gehet mir, meine Herren, hart an, daß ich mich mit dem laͤngſt vermoderten Horaz nun noch erſt herum tummeln, und ſeine Urne, als den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/167
Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/167>, abgerufen am 28.03.2024.