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Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

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Zwey hundert Maximen
CIV. Der erhabene Geschmack gehet mit
lauter erhabenen Vorwürfen um, und betrach-
tet solche durch einen weitaufgeklärten Verstand.
Der niedrige Geschmack aber verwandelt sogar
die erhabensten Sachen in unansehnliche Bag-
gatellen.
CV. Der wahrhaftig erhabene Geschmack
gleichet der Süßigkeit einer in ihr selbst saftigen
Melone oder Pfirschke; der entlehnte Geschmack
aber, der Dinge ausputzet, und als erhaben aus-
giebet, die doch in sich gemein und niedrig sind,
gleichet den Künsten der Köche, die ein mageres
Wildpret brav ausspicken, damit es ein appe-
titlich Ansehen bekommen möge.
CVI. So weit eine natürliche Schönheit
von einer geschminkten entfernet ist, und jene
vor dieser einen Vorzug hat; eben so weit ist der
wahrhaftig hohe Geschmack von dem hochge-
triebenen
unterschieden.
CVII. Die wahre Höhe der Gedanken glei-
chet einer Schönheit, die, wie eine ausgehauene
Ceder, in schlanker Taille vor einem stehet; die
falsche Höhe des Witzes aber gleichet einem auf-
gedunsteten
Leibe, oder einer theatralischen
Nymphe, die auf Stelzen gehet.
CVIII. Was nach den Regeln des erhabenen
Geschmackes abgefasset ist, frappiret das Herz
eines jeden, der es höret, oder lieset; hingegen
verfällt die übertriebene Vorstellung einer Sa-
che gar oft ins Lächerliche und ins Erbarmens-
würdige.
CIX
Zwey hundert Maximen
CIV. Der erhabene Geſchmack gehet mit
lauter erhabenen Vorwuͤrfen um, und betrach-
tet ſolche durch einen weitaufgeklaͤrten Verſtand.
Der niedrige Geſchmack aber verwandelt ſogar
die erhabenſten Sachen in unanſehnliche Bag-
gatellen.
CV. Der wahrhaftig erhabene Geſchmack
gleichet der Suͤßigkeit einer in ihr ſelbſt ſaftigen
Melone oder Pfirſchke; der entlehnte Geſchmack
aber, der Dinge ausputzet, und als erhaben aus-
giebet, die doch in ſich gemein und niedrig ſind,
gleichet den Kuͤnſten der Koͤche, die ein mageres
Wildpret brav ausſpicken, damit es ein appe-
titlich Anſehen bekommen moͤge.
CVI. So weit eine natuͤrliche Schoͤnheit
von einer geſchminkten entfernet iſt, und jene
vor dieſer einen Vorzug hat; eben ſo weit iſt der
wahrhaftig hohe Geſchmack von dem hochge-
triebenen
unterſchieden.
CVII. Die wahre Hoͤhe der Gedanken glei-
chet einer Schoͤnheit, die, wie eine ausgehauene
Ceder, in ſchlanker Taille vor einem ſtehet; die
falſche Hoͤhe des Witzes aber gleichet einem auf-
gedunſteten
Leibe, oder einer theatraliſchen
Nymphe, die auf Stelzen gehet.
CVIII. Was nach den Regeln des erhabenen
Geſchmackes abgefaſſet iſt, frappiret das Herz
eines jeden, der es hoͤret, oder lieſet; hingegen
verfaͤllt die uͤbertriebene Vorſtellung einer Sa-
che gar oft ins Laͤcherliche und ins Erbarmens-
wuͤrdige.
CIX
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[212/0220] Zwey hundert Maximen CIV. Der erhabene Geſchmack gehet mit lauter erhabenen Vorwuͤrfen um, und betrach- tet ſolche durch einen weitaufgeklaͤrten Verſtand. Der niedrige Geſchmack aber verwandelt ſogar die erhabenſten Sachen in unanſehnliche Bag- gatellen. CV. Der wahrhaftig erhabene Geſchmack gleichet der Suͤßigkeit einer in ihr ſelbſt ſaftigen Melone oder Pfirſchke; der entlehnte Geſchmack aber, der Dinge ausputzet, und als erhaben aus- giebet, die doch in ſich gemein und niedrig ſind, gleichet den Kuͤnſten der Koͤche, die ein mageres Wildpret brav ausſpicken, damit es ein appe- titlich Anſehen bekommen moͤge. CVI. So weit eine natuͤrliche Schoͤnheit von einer geſchminkten entfernet iſt, und jene vor dieſer einen Vorzug hat; eben ſo weit iſt der wahrhaftig hohe Geſchmack von dem hochge- triebenen unterſchieden. CVII. Die wahre Hoͤhe der Gedanken glei- chet einer Schoͤnheit, die, wie eine ausgehauene Ceder, in ſchlanker Taille vor einem ſtehet; die falſche Hoͤhe des Witzes aber gleichet einem auf- gedunſteten Leibe, oder einer theatraliſchen Nymphe, die auf Stelzen gehet. CVIII. Was nach den Regeln des erhabenen Geſchmackes abgefaſſet iſt, frappiret das Herz eines jeden, der es hoͤret, oder lieſet; hingegen verfaͤllt die uͤbertriebene Vorſtellung einer Sa- che gar oft ins Laͤcherliche und ins Erbarmens- wuͤrdige. CIX

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Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/220>, abgerufen am 19.04.2024.