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Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

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nach mathematischer Lehr-Art.
3. Zusatz.

§ 10. Wenn aber entweder der Reim schon
vorhanden ist, ehe noch der Gedanke vestgesetzet
worden; oder aber der Begriff im Kopfe zwar
ausgehecket, aber sich nicht recht in Reime will
ausdrücken lassen: heißt solches das Schwere
in der Reimschmiederey und kriechenden Poesie;
das Leichte aber, wenn beydes, ohne groß Nach-
sinnen, einem flugs einfällt.

3. Grundsatz.

§ 11. Bey der Reimschmiederey hat man
vollkommene Freyheit, so gut zu reimen, als
der poetische Amboß und Schmiede-Hammer
den Reim heraustreiben kann.

1. Anmerkung.

§ 12. Die gekünstelte Poesie will alle Rei-
me nach genauem Sylben-Maasse, Abschnitt,
Cesur, Scansion, Füßen
und Construction,
oder richtiger Wortfügung, abgemessen haben;
aber die Reimschmiede-Kunst nimmt sich mehr
Freyheit heraus. Man darf ganze Sylben ver-
schlucken;
braucht die pedes nicht zu zehlen;
die Cesur mag fallen, wie sie will: der Reim-
schmied fällt nie aus dem Gleise; die Constru-
ction
mag verworfen werden, wie sie will: es
schadet nichts. Die Hans-Sachsen-Poesie ist
also der menschlichen Natur conformer, wel-
che die Freyheit und Ungebundenheit mehr lie-
bet, als so genaue Einschränkungen.

2. An-
B 3
nach mathematiſcher Lehr-Art.
3. Zuſatz.

§ 10. Wenn aber entweder der Reim ſchon
vorhanden iſt, ehe noch der Gedanke veſtgeſetzet
worden; oder aber der Begriff im Kopfe zwar
ausgehecket, aber ſich nicht recht in Reime will
ausdruͤcken laſſen: heißt ſolches das Schwere
in der Reimſchmiederey und kriechenden Poeſie;
das Leichte aber, wenn beydes, ohne groß Nach-
ſinnen, einem flugs einfaͤllt.

3. Grundſatz.

§ 11. Bey der Reimſchmiederey hat man
vollkommene Freyheit, ſo gut zu reimen, als
der poetiſche Amboß und Schmiede-Hammer
den Reim heraustreiben kann.

1. Anmerkung.

§ 12. Die gekuͤnſtelte Poeſie will alle Rei-
me nach genauem Sylben-Maaſſe, Abſchnitt,
Ceſur, Scanſion, Fuͤßen
und Conſtruction,
oder richtiger Wortfuͤgung, abgemeſſen haben;
aber die Reimſchmiede-Kunſt nimmt ſich mehr
Freyheit heraus. Man darf ganze Sylben ver-
ſchlucken;
braucht die pedes nicht zu zehlen;
die Ceſur mag fallen, wie ſie will: der Reim-
ſchmied faͤllt nie aus dem Gleiſe; die Conſtru-
ction
mag verworfen werden, wie ſie will: es
ſchadet nichts. Die Hans-Sachſen-Poeſie iſt
alſo der menſchlichen Natur conformer, wel-
che die Freyheit und Ungebundenheit mehr lie-
bet, als ſo genaue Einſchraͤnkungen.

2. An-
B 3
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[21/0029] nach mathematiſcher Lehr-Art. 3. Zuſatz. § 10. Wenn aber entweder der Reim ſchon vorhanden iſt, ehe noch der Gedanke veſtgeſetzet worden; oder aber der Begriff im Kopfe zwar ausgehecket, aber ſich nicht recht in Reime will ausdruͤcken laſſen: heißt ſolches das Schwere in der Reimſchmiederey und kriechenden Poeſie; das Leichte aber, wenn beydes, ohne groß Nach- ſinnen, einem flugs einfaͤllt. 3. Grundſatz. § 11. Bey der Reimſchmiederey hat man vollkommene Freyheit, ſo gut zu reimen, als der poetiſche Amboß und Schmiede-Hammer den Reim heraustreiben kann. 1. Anmerkung. § 12. Die gekuͤnſtelte Poeſie will alle Rei- me nach genauem Sylben-Maaſſe, Abſchnitt, Ceſur, Scanſion, Fuͤßen und Conſtruction, oder richtiger Wortfuͤgung, abgemeſſen haben; aber die Reimſchmiede-Kunſt nimmt ſich mehr Freyheit heraus. Man darf ganze Sylben ver- ſchlucken; braucht die pedes nicht zu zehlen; die Ceſur mag fallen, wie ſie will: der Reim- ſchmied faͤllt nie aus dem Gleiſe; die Conſtru- ction mag verworfen werden, wie ſie will: es ſchadet nichts. Die Hans-Sachſen-Poeſie iſt alſo der menſchlichen Natur conformer, wel- che die Freyheit und Ungebundenheit mehr lie- bet, als ſo genaue Einſchraͤnkungen. 2. An- B 3

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Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/29>, abgerufen am 28.03.2024.