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Poersch, Bruno: Woran krankt die deutsche Gewerkschaftsbewegung? Berlin, 1897.

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Wenn ferner angenommen wird, daß ein kommender großer
Krieg
, oder eine gewaltige Krise plötzlich die Massen in die Arme
der Sozialdemokratie treiben und so diese die Staatsgewalt er¬
obern und die sozialdemokratische Gesellschaft verwirklichen werde
können, so ist das weiter nichts, als ein Glaube an kommende
Wunder. Traurig wäre es aber mit der deutschen Arbeiterklasse
bestellt, wenn sie ihre ganze Zukunft auf blinden Glauben auf¬
bauen wollte; sie hat zu arbeiten, Stein für Stein des herrschenden
Systems niederzureißen und in den Rahmen desselben die Vor¬
bedingungen für das zukünftige aufzubauen. Dazu dient aber
vor allen Dingen der gewerkschaftliche Kampf. Ich glaube diesen
Abschnitt nicht besser schließen zu können, als mit den vorzüg¬
lichen Worten Eduard Bernstein's: "Man braucht kein
Manchestermann oder Anarchist, kein Gegner der Anrufung oder
Benutzung des Staates zu sein, um es für wenig wünschens¬
werth zu halten, daß die Arbeiter sich daran gewöhnen, alle
Hilfe und Verbesserung vom Staat, "von oben her", zu erwarten.
Wer sich nicht einem Glauben an zukünftige Wunder ergiebt,
der Vorstellung, daß man in jedem Augenblick des Bedarfs
leistungsfähige organische Gebilde aus dem Boden stampfen
kann, wird in der Gewerkschaft nicht nur eine Vorschule weit¬
gehender demokratischer Selbstverwaltung begrüßen, sondern auch
einen wichtigen Hebel der von der Sozialdemokratie erstrebten
wirthschaftlichen Umgestaltungen. Der Satz, daß die Emanzipation
der Arbeiterklasse das Werk dieser selbst sein muß, hat eine
weitere Bedeutung als blos die der Eroberung der Staatsgewalt
durch die Arbeiter." *)


II.
Das Hilfskassen- und Unterstützungswesen
in den Gewerkschaftsorganisationen
.

"Schreibt man über Gewerkschaften, so kann man nicht um¬
hin, von England zu sprechen", so sagt Parvus in seiner
wiederholt erwähnten Schrift. Auch ich habe dieses schon in
dem vorherigen Abschnitt gethan und muß es jetzt wieder thun.
-- Wenn man die englischen Gewerkschaftsorganisationen näher
betrachtet, so wird man finden, daß sich dieselben vor Allem in
einem Punkte wesentlich von denen der deutschen Arbeiter
unterscheiden. Die meisten Berufsorganisationen des englischen
Proletariats und namentlich die größeren sind nicht sogenannte
reine Gewerkschaftsvereine, sondern sie besitzen auch den Charakter
von Versicherungs-Gesellschaften auf Gegenseitigkeit und

*) "Die Geschichte des Britischen Trade-Unionismus" von
S. u. B. Webb, Nachwort.

Wenn ferner angenommen wird, daß ein kommender großer
Krieg
, oder eine gewaltige Kriſe plötzlich die Maſſen in die Arme
der Sozialdemokratie treiben und ſo dieſe die Staatsgewalt er¬
obern und die ſozialdemokratiſche Geſellſchaft verwirklichen werde
können, ſo iſt das weiter nichts, als ein Glaube an kommende
Wunder. Traurig wäre es aber mit der deutſchen Arbeiterklaſſe
beſtellt, wenn ſie ihre ganze Zukunft auf blinden Glauben auf¬
bauen wollte; ſie hat zu arbeiten, Stein für Stein des herrſchenden
Syſtems niederzureißen und in den Rahmen desſelben die Vor¬
bedingungen für das zukünftige aufzubauen. Dazu dient aber
vor allen Dingen der gewerkſchaftliche Kampf. Ich glaube dieſen
Abſchnitt nicht beſſer ſchließen zu können, als mit den vorzüg¬
lichen Worten Eduard Bernſtein's: „Man braucht kein
Mancheſtermann oder Anarchiſt, kein Gegner der Anrufung oder
Benutzung des Staates zu ſein, um es für wenig wünſchens¬
werth zu halten, daß die Arbeiter ſich daran gewöhnen, alle
Hilfe und Verbeſſerung vom Staat, „von oben her“, zu erwarten.
Wer ſich nicht einem Glauben an zukünftige Wunder ergiebt,
der Vorſtellung, daß man in jedem Augenblick des Bedarfs
leiſtungsfähige organiſche Gebilde aus dem Boden ſtampfen
kann, wird in der Gewerkſchaft nicht nur eine Vorſchule weit¬
gehender demokratiſcher Selbſtverwaltung begrüßen, ſondern auch
einen wichtigen Hebel der von der Sozialdemokratie erſtrebten
wirthſchaftlichen Umgeſtaltungen. Der Satz, daß die Emanzipation
der Arbeiterklaſſe das Werk dieſer ſelbſt ſein muß, hat eine
weitere Bedeutung als blos die der Eroberung der Staatsgewalt
durch die Arbeiter.“ *)


II.
Das Hilfskaſſen- und Unterſtützungsweſen
in den Gewerkſchaftsorganiſationen
.

„Schreibt man über Gewerkſchaften, ſo kann man nicht um¬
hin, von England zu ſprechen“, ſo ſagt Parvus in ſeiner
wiederholt erwähnten Schrift. Auch ich habe dieſes ſchon in
dem vorherigen Abſchnitt gethan und muß es jetzt wieder thun.
— Wenn man die engliſchen Gewerkſchaftsorganiſationen näher
betrachtet, ſo wird man finden, daß ſich dieſelben vor Allem in
einem Punkte weſentlich von denen der deutſchen Arbeiter
unterſcheiden. Die meiſten Berufsorganiſationen des engliſchen
Proletariats und namentlich die größeren ſind nicht ſogenannte
reine Gewerkſchaftsvereine, ſondern ſie beſitzen auch den Charakter
von Verſicherungs-Geſellſchaften auf Gegenſeitigkeit und

*) „Die Geſchichte des Britiſchen Trade-Unionismus“ von
S. u. B. Webb, Nachwort.
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[13/0021] Wenn ferner angenommen wird, daß ein kommender großer Krieg, oder eine gewaltige Kriſe plötzlich die Maſſen in die Arme der Sozialdemokratie treiben und ſo dieſe die Staatsgewalt er¬ obern und die ſozialdemokratiſche Geſellſchaft verwirklichen werde können, ſo iſt das weiter nichts, als ein Glaube an kommende Wunder. Traurig wäre es aber mit der deutſchen Arbeiterklaſſe beſtellt, wenn ſie ihre ganze Zukunft auf blinden Glauben auf¬ bauen wollte; ſie hat zu arbeiten, Stein für Stein des herrſchenden Syſtems niederzureißen und in den Rahmen desſelben die Vor¬ bedingungen für das zukünftige aufzubauen. Dazu dient aber vor allen Dingen der gewerkſchaftliche Kampf. Ich glaube dieſen Abſchnitt nicht beſſer ſchließen zu können, als mit den vorzüg¬ lichen Worten Eduard Bernſtein's: „Man braucht kein Mancheſtermann oder Anarchiſt, kein Gegner der Anrufung oder Benutzung des Staates zu ſein, um es für wenig wünſchens¬ werth zu halten, daß die Arbeiter ſich daran gewöhnen, alle Hilfe und Verbeſſerung vom Staat, „von oben her“, zu erwarten. Wer ſich nicht einem Glauben an zukünftige Wunder ergiebt, der Vorſtellung, daß man in jedem Augenblick des Bedarfs leiſtungsfähige organiſche Gebilde aus dem Boden ſtampfen kann, wird in der Gewerkſchaft nicht nur eine Vorſchule weit¬ gehender demokratiſcher Selbſtverwaltung begrüßen, ſondern auch einen wichtigen Hebel der von der Sozialdemokratie erſtrebten wirthſchaftlichen Umgeſtaltungen. Der Satz, daß die Emanzipation der Arbeiterklaſſe das Werk dieſer ſelbſt ſein muß, hat eine weitere Bedeutung als blos die der Eroberung der Staatsgewalt durch die Arbeiter.“ *) II. Das Hilfskaſſen- und Unterſtützungsweſen in den Gewerkſchaftsorganiſationen. „Schreibt man über Gewerkſchaften, ſo kann man nicht um¬ hin, von England zu ſprechen“, ſo ſagt Parvus in ſeiner wiederholt erwähnten Schrift. Auch ich habe dieſes ſchon in dem vorherigen Abſchnitt gethan und muß es jetzt wieder thun. — Wenn man die engliſchen Gewerkſchaftsorganiſationen näher betrachtet, ſo wird man finden, daß ſich dieſelben vor Allem in einem Punkte weſentlich von denen der deutſchen Arbeiter unterſcheiden. Die meiſten Berufsorganiſationen des engliſchen Proletariats und namentlich die größeren ſind nicht ſogenannte reine Gewerkſchaftsvereine, ſondern ſie beſitzen auch den Charakter von Verſicherungs-Geſellſchaften auf Gegenſeitigkeit und *) „Die Geſchichte des Britiſchen Trade-Unionismus“ von S. u. B. Webb, Nachwort.

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Zitationshilfe: Poersch, Bruno: Woran krankt die deutsche Gewerkschaftsbewegung? Berlin, 1897, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poersch_gewerkschaftsbewegung_1897/21>, abgerufen am 29.03.2024.