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Poersch, Bruno: Woran krankt die deutsche Gewerkschaftsbewegung? Berlin, 1897.

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zwar dadurch, indem sie Unterstützungen bei Arbeitslosigkeit, Un¬
fällen, Arbeitsunfähigkeit, Auswanderung, in Krankheits-, Todes¬
fällen u. s. w. gewähren. Die meisten deutschen Gewerkschafts¬
organisationen haben derartige Unterstützungen nicht, oder doch
nur ganz minimale. -- Und dieses scheint mir der springende
Punkt zu sein, weshalb die englischen Organisationen stärker
sind, Stabili[t]ät besitzen und einen wirklichen dauernden
Einfluß
auf die Lohn- und Arbeitsverhältnisse ausüben können,
als die deutschen Durch das Unterstützungswesen hat man die
Masse für die Organisation gewonnen, hat sie dauernd an der¬
selben gekettet und ist durch einzelne Unterstützungszweige ferner
im Stande, den Arbeitsmarkt, resp. den Preis der Waare Ar¬
beitskraft, auch ohne Streiks indirekt beeinflussen zu können. --
Daß diese meine Annahmen richtig sind, wird durch folgende
Thatsachen bewiesen. -- Die englische Gewerkschaftsbewegung
war einst ohne ihr jetziges ausgebautes Unterstützungswesen
genau dasselbe was gegenwärtig die deutsche ist. Auch sie drehte
sich damals im Kreise herum und bildete eine Kette von un¬
unterbrochenen Niederlagen. Erst als durch William Allon
und William Newton die Amalgamirte Vereinigung der Ma¬
schinenbauer mit ihrem ausgedehnten Unterstützungswesen im
Jahre 1851 in's Leben gerufen wurde, ist die englische Gewerk¬
schaftsbewegung zu ihrer heutigen Bedeutung gekommen; erst
als dieses "Neue Muster" von den meisten anderen Organi¬
sationen nachgeahmt wurde, haben sich diese auf ihre gegenwärtige
Stärke und Stabilität entwickelt. Man studire nur Ge¬
schichte des Britischen Trade-Unionismus und man wird die
Behauptung bewahrheitet finden. Aber auch durch die deutsche
Gewerkschaftsbewegung wird dieselbe bestätigt. Die wenigen
deutschen Gewerkschaftsorganisationen, welche ihren Mitgliedern
größere Unterstützungen gewähren, also auch gleichzeitig den
Charakter von Versicherungsgesellschaften haben, besitzen
einen viel stärkeren und festeren Mitgliederbestand als diejenigen,
welche nur reine Gewerkschaftszwecke verfolgen. -- Das Haupt¬
mittel des gewerkschaftlichen Versicherungswesen ist meines Er¬
achtens nach die Arbeitslosen-Unterstützung: ich werde sie in dem
folgenden Abschnitt eingehend behandeln und dabei eine Reihe
von Ausführungen machen, die ich eigentlich schon hier machen
müßte, um aber Wiederholungen zu vermeiden, unterlassen habe.


III.
Die Unterstützung der Arbeitslosen und die
gewerkschaftlichen Organisationen.

Parvus sagt sehr richtig, daß die Frage der Arbeitslosen-
Unterstützung für die Gewerkschaftsorganisationen keine prin¬
zipielle
, sondern eine rein taktische ist. Alle diejenigen,

zwar dadurch, indem ſie Unterſtützungen bei Arbeitsloſigkeit, Un¬
fällen, Arbeitsunfähigkeit, Auswanderung, in Krankheits-, Todes¬
fällen u. ſ. w. gewähren. Die meiſten deutſchen Gewerkſchafts¬
organiſationen haben derartige Unterſtützungen nicht, oder doch
nur ganz minimale. — Und dieſes ſcheint mir der ſpringende
Punkt zu ſein, weshalb die engliſchen Organiſationen ſtärker
ſind, Stabili[t]ät beſitzen und einen wirklichen dauernden
Einfluß
auf die Lohn- und Arbeitsverhältniſſe ausüben können,
als die deutſchen Durch das Unterſtützungsweſen hat man die
Maſſe für die Organiſation gewonnen, hat ſie dauernd an der¬
ſelben gekettet und iſt durch einzelne Unterſtützungszweige ferner
im Stande, den Arbeitsmarkt, reſp. den Preis der Waare Ar¬
beitskraft, auch ohne Streiks indirekt beeinfluſſen zu können. —
Daß dieſe meine Annahmen richtig ſind, wird durch folgende
Thatſachen bewieſen. — Die engliſche Gewerkſchaftsbewegung
war einſt ohne ihr jetziges ausgebautes Unterſtützungsweſen
genau dasſelbe was gegenwärtig die deutſche iſt. Auch ſie drehte
ſich damals im Kreiſe herum und bildete eine Kette von un¬
unterbrochenen Niederlagen. Erſt als durch William Allon
und William Newton die Amalgamirte Vereinigung der Ma¬
ſchinenbauer mit ihrem ausgedehnten Unterſtützungsweſen im
Jahre 1851 in's Leben gerufen wurde, iſt die engliſche Gewerk¬
ſchaftsbewegung zu ihrer heutigen Bedeutung gekommen; erſt
als dieſes „Neue Muſter“ von den meiſten anderen Organi¬
ſationen nachgeahmt wurde, haben ſich dieſe auf ihre gegenwärtige
Stärke und Stabilität entwickelt. Man ſtudire nur Ge¬
ſchichte des Britiſchen Trade-Unionismus und man wird die
Behauptung bewahrheitet finden. Aber auch durch die deutſche
Gewerkſchaftsbewegung wird dieſelbe beſtätigt. Die wenigen
deutſchen Gewerkſchaftsorganiſationen, welche ihren Mitgliedern
größere Unterſtützungen gewähren, alſo auch gleichzeitig den
Charakter von Verſicherungsgeſellſchaften haben, beſitzen
einen viel ſtärkeren und feſteren Mitgliederbeſtand als diejenigen,
welche nur reine Gewerkſchaftszwecke verfolgen. — Das Haupt¬
mittel des gewerkſchaftlichen Verſicherungsweſen iſt meines Er¬
achtens nach die Arbeitsloſen-Unterſtützung: ich werde ſie in dem
folgenden Abſchnitt eingehend behandeln und dabei eine Reihe
von Ausführungen machen, die ich eigentlich ſchon hier machen
müßte, um aber Wiederholungen zu vermeiden, unterlaſſen habe.


III.
Die Unterſtützung der Arbeitsloſen und die
gewerkſchaftlichen Organiſationen.

Parvus ſagt ſehr richtig, daß die Frage der Arbeitsloſen-
Unterſtützung für die Gewerkſchaftsorganiſationen keine prin¬
zipielle
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[14/0022] zwar dadurch, indem ſie Unterſtützungen bei Arbeitsloſigkeit, Un¬ fällen, Arbeitsunfähigkeit, Auswanderung, in Krankheits-, Todes¬ fällen u. ſ. w. gewähren. Die meiſten deutſchen Gewerkſchafts¬ organiſationen haben derartige Unterſtützungen nicht, oder doch nur ganz minimale. — Und dieſes ſcheint mir der ſpringende Punkt zu ſein, weshalb die engliſchen Organiſationen ſtärker ſind, Stabilität beſitzen und einen wirklichen dauernden Einfluß auf die Lohn- und Arbeitsverhältniſſe ausüben können, als die deutſchen Durch das Unterſtützungsweſen hat man die Maſſe für die Organiſation gewonnen, hat ſie dauernd an der¬ ſelben gekettet und iſt durch einzelne Unterſtützungszweige ferner im Stande, den Arbeitsmarkt, reſp. den Preis der Waare Ar¬ beitskraft, auch ohne Streiks indirekt beeinfluſſen zu können. — Daß dieſe meine Annahmen richtig ſind, wird durch folgende Thatſachen bewieſen. — Die engliſche Gewerkſchaftsbewegung war einſt ohne ihr jetziges ausgebautes Unterſtützungsweſen genau dasſelbe was gegenwärtig die deutſche iſt. Auch ſie drehte ſich damals im Kreiſe herum und bildete eine Kette von un¬ unterbrochenen Niederlagen. Erſt als durch William Allon und William Newton die Amalgamirte Vereinigung der Ma¬ ſchinenbauer mit ihrem ausgedehnten Unterſtützungsweſen im Jahre 1851 in's Leben gerufen wurde, iſt die engliſche Gewerk¬ ſchaftsbewegung zu ihrer heutigen Bedeutung gekommen; erſt als dieſes „Neue Muſter“ von den meiſten anderen Organi¬ ſationen nachgeahmt wurde, haben ſich dieſe auf ihre gegenwärtige Stärke und Stabilität entwickelt. Man ſtudire nur Ge¬ ſchichte des Britiſchen Trade-Unionismus und man wird die Behauptung bewahrheitet finden. Aber auch durch die deutſche Gewerkſchaftsbewegung wird dieſelbe beſtätigt. Die wenigen deutſchen Gewerkſchaftsorganiſationen, welche ihren Mitgliedern größere Unterſtützungen gewähren, alſo auch gleichzeitig den Charakter von Verſicherungsgeſellſchaften haben, beſitzen einen viel ſtärkeren und feſteren Mitgliederbeſtand als diejenigen, welche nur reine Gewerkſchaftszwecke verfolgen. — Das Haupt¬ mittel des gewerkſchaftlichen Verſicherungsweſen iſt meines Er¬ achtens nach die Arbeitsloſen-Unterſtützung: ich werde ſie in dem folgenden Abſchnitt eingehend behandeln und dabei eine Reihe von Ausführungen machen, die ich eigentlich ſchon hier machen müßte, um aber Wiederholungen zu vermeiden, unterlaſſen habe. III. Die Unterſtützung der Arbeitsloſen und die gewerkſchaftlichen Organiſationen. Parvus ſagt ſehr richtig, daß die Frage der Arbeitsloſen- Unterſtützung für die Gewerkſchaftsorganiſationen keine prin¬ zipielle, ſondern eine rein taktiſche iſt. Alle diejenigen,

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Zitationshilfe: Poersch, Bruno: Woran krankt die deutsche Gewerkschaftsbewegung? Berlin, 1897, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poersch_gewerkschaftsbewegung_1897/22>, abgerufen am 28.03.2024.