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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830.

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der intellectuellen Kräfte, die vollständigste Gesund-
heit der Seele
. Große und hervorstechende ein-
zelne Eigenschaften können daher nicht damit verbun-
den seyn, denn, wo eine Kraft hervortritt,
hört das Gleichgewicht auf. Man kann also hinrei-
ßen, leidenschaftliche Liebe, Bewunderung, Achtung
einflößen, ohne deshalb temper zu haben, -- voll-
kommen
liebenswürdig auf die Dauer aber wird
man nur durch seinen Besitz. Das Wahrnehmen der
Harmonie in allen Dingen wirkt wohlthätig auf den
Geist; -- des Grundes oft sich unbewußt, wird die
Seele doch immer dadurch erfreut, welcher ihrer
Sinne es auch sey, der ihr dieß Gefühl zuführt.
Eine solche Person also, die mit temper begabt ist,
gewährt uns beständigen Genuß, ohne je unsern
Neid zu erregen, noch andere zu heftige Empfindun-
gen zu erwecken. Wir stärken uns an ihrer Ruhe,
beleben uns an ihrer stets gleichen Heiterkeit, trösten
uns an ihrer Resignation, fühlen den Zorn schwin-
den vor ihrer liebenden Geduld, und werden am
Ende besser und froher am Geister-Klange ihrer
Harmonie.

Wie viel Worte, gute Julie, wirst Du sagen,
um eins zu beschreiben, und dennoch habe ich nur
unvollkommen ausgedrückt, was -- temper -- sey.



Briefe eines Verstorbenen. I. 16

der intellectuellen Kräfte, die vollſtändigſte Geſund-
heit der Seele
. Große und hervorſtechende ein-
zelne Eigenſchaften können daher nicht damit verbun-
den ſeyn, denn, wo eine Kraft hervortritt,
hört das Gleichgewicht auf. Man kann alſo hinrei-
ßen, leidenſchaftliche Liebe, Bewunderung, Achtung
einflößen, ohne deshalb temper zu haben, — voll-
kommen
liebenswürdig auf die Dauer aber wird
man nur durch ſeinen Beſitz. Das Wahrnehmen der
Harmonie in allen Dingen wirkt wohlthätig auf den
Geiſt; — des Grundes oft ſich unbewußt, wird die
Seele doch immer dadurch erfreut, welcher ihrer
Sinne es auch ſey, der ihr dieß Gefühl zuführt.
Eine ſolche Perſon alſo, die mit temper begabt iſt,
gewährt uns beſtändigen Genuß, ohne je unſern
Neid zu erregen, noch andere zu heftige Empfindun-
gen zu erwecken. Wir ſtärken uns an ihrer Ruhe,
beleben uns an ihrer ſtets gleichen Heiterkeit, tröſten
uns an ihrer Reſignation, fühlen den Zorn ſchwin-
den vor ihrer liebenden Geduld, und werden am
Ende beſſer und froher am Geiſter-Klange ihrer
Harmonie.

Wie viel Worte, gute Julie, wirſt Du ſagen,
um eins zu beſchreiben, und dennoch habe ich nur
unvollkommen ausgedrückt, was — temper — ſey.



Briefe eines Verſtorbenen. I. 16
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[241/0265] der intellectuellen Kräfte, die vollſtändigſte Geſund- heit der Seele. Große und hervorſtechende ein- zelne Eigenſchaften können daher nicht damit verbun- den ſeyn, denn, wo eine Kraft hervortritt, hört das Gleichgewicht auf. Man kann alſo hinrei- ßen, leidenſchaftliche Liebe, Bewunderung, Achtung einflößen, ohne deshalb temper zu haben, — voll- kommen liebenswürdig auf die Dauer aber wird man nur durch ſeinen Beſitz. Das Wahrnehmen der Harmonie in allen Dingen wirkt wohlthätig auf den Geiſt; — des Grundes oft ſich unbewußt, wird die Seele doch immer dadurch erfreut, welcher ihrer Sinne es auch ſey, der ihr dieß Gefühl zuführt. Eine ſolche Perſon alſo, die mit temper begabt iſt, gewährt uns beſtändigen Genuß, ohne je unſern Neid zu erregen, noch andere zu heftige Empfindun- gen zu erwecken. Wir ſtärken uns an ihrer Ruhe, beleben uns an ihrer ſtets gleichen Heiterkeit, tröſten uns an ihrer Reſignation, fühlen den Zorn ſchwin- den vor ihrer liebenden Geduld, und werden am Ende beſſer und froher am Geiſter-Klange ihrer Harmonie. Wie viel Worte, gute Julie, wirſt Du ſagen, um eins zu beſchreiben, und dennoch habe ich nur unvollkommen ausgedrückt, was — temper — ſey. Briefe eines Verſtorbenen. I. 16

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830/265>, abgerufen am 29.03.2024.