Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830.

Bild:
<< vorherige Seite

zu Hause geschickt, oder als ein Märtyrer gesteinigt
und gekreuzigt werden. Die Geschichte lehrt dies auf
jeder Seite. Was hier auf das Allgemeine Anwen-
dung findet, ist aber auch der Fall mit dem Einzel-
nen, und nach alle dem -- parlez moi raison, si vous
l'osez
. Doch muß ich eins im Ernste sagen. Wer
einmal zu freimüthig geboren ist, und selbst die all-
gemeine Meinung wenig achtet, wenn sie nur eine
gemeine ist -- der bleibe ja sein ganzes Leben so.
Die Folgen einer solchen Denkungsart, und die An-
feindungen denen sie aussetzt, werden nur dann
schmerzlich empfunden, und zuletzt gefährlich, wenn
man, schwach geworden, aufhört selbstständig zu seyn,
und statt, wie bisher, fremde Meinung zu verachten,
sich davor zu fürchten anfängt. So etwas merkt die
Menge schnell, und verfolgt dann erst mit Con-
sequenz das vor ihr laufende Wild, über das sie frü-
her, so lange es ihr Stand hielt, und keck in die Au-
gen sah, nur erfolglose Glossen zu machen wagte.
Für die Welt giebt es überhaupt keine bessere Lehre
als: Bouche riante et front d'airain, et vous passez
partout
. Wir Deutsche sind fast immer zu ernst,
wie zu timide, und nur im Stande momentane Efforts
gegen diese Fehler zu machen, bei welchen Versuchen
wir überdies auch das Ziel leicht überschießen. Aus
diesem Grunde hauptsächlich lieben wir wohl so die
Zurückgezogenheit, und verkehren am liebsten blos
mit unserer Phantasie, als treuer Gesellschafterin --
souveraine Herren im Reiche der Luft, -- wie Frau
v. Stael sagt. Die große Welt wie sie ist, gefällt

zu Hauſe geſchickt, oder als ein Märtyrer geſteinigt
und gekreuzigt werden. Die Geſchichte lehrt dies auf
jeder Seite. Was hier auf das Allgemeine Anwen-
dung findet, iſt aber auch der Fall mit dem Einzel-
nen, und nach alle dem — parlez moi raison, si vous
l’osez
. Doch muß ich eins im Ernſte ſagen. Wer
einmal zu freimüthig geboren iſt, und ſelbſt die all-
gemeine Meinung wenig achtet, wenn ſie nur eine
gemeine iſt — der bleibe ja ſein ganzes Leben ſo.
Die Folgen einer ſolchen Denkungsart, und die An-
feindungen denen ſie ausſetzt, werden nur dann
ſchmerzlich empfunden, und zuletzt gefährlich, wenn
man, ſchwach geworden, aufhört ſelbſtſtändig zu ſeyn,
und ſtatt, wie bisher, fremde Meinung zu verachten,
ſich davor zu fürchten anfängt. So etwas merkt die
Menge ſchnell, und verfolgt dann erſt mit Con-
ſequenz das vor ihr laufende Wild, über das ſie frü-
her, ſo lange es ihr Stand hielt, und keck in die Au-
gen ſah, nur erfolgloſe Gloſſen zu machen wagte.
Für die Welt giebt es überhaupt keine beſſere Lehre
als: Bouche riante et front d’airain, et vous passez
partout
. Wir Deutſche ſind faſt immer zu ernſt,
wie zu timide, und nur im Stande momentane Efforts
gegen dieſe Fehler zu machen, bei welchen Verſuchen
wir überdies auch das Ziel leicht überſchießen. Aus
dieſem Grunde hauptſächlich lieben wir wohl ſo die
Zurückgezogenheit, und verkehren am liebſten blos
mit unſerer Phantaſie, als treuer Geſellſchafterin —
ſouveraine Herren im Reiche der Luft, — wie Frau
v. Staël ſagt. Die große Welt wie ſie iſt, gefällt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0275" n="251"/>
zu Hau&#x017F;e ge&#x017F;chickt, oder als ein Märtyrer ge&#x017F;teinigt<lb/>
und gekreuzigt werden. Die Ge&#x017F;chichte lehrt dies auf<lb/>
jeder Seite. Was hier auf das Allgemeine Anwen-<lb/>
dung findet, i&#x017F;t aber auch der Fall mit dem Einzel-<lb/>
nen, und nach alle dem &#x2014; <hi rendition="#aq">parlez moi raison, si vous<lb/>
l&#x2019;osez</hi>. Doch muß ich eins im Ern&#x017F;te &#x017F;agen. Wer<lb/>
einmal zu freimüthig geboren i&#x017F;t, und &#x017F;elb&#x017F;t die all-<lb/>
gemeine Meinung wenig achtet, wenn &#x017F;ie nur eine<lb/><hi rendition="#g">gemeine</hi> i&#x017F;t &#x2014; der bleibe ja &#x017F;ein ganzes Leben &#x017F;o.<lb/>
Die Folgen einer &#x017F;olchen Denkungsart, und die An-<lb/>
feindungen denen &#x017F;ie aus&#x017F;etzt, werden nur dann<lb/>
&#x017F;chmerzlich empfunden, und zuletzt gefährlich, wenn<lb/>
man, &#x017F;chwach geworden, aufhört &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändig zu &#x017F;eyn,<lb/>
und &#x017F;tatt, wie bisher, fremde Meinung zu verachten,<lb/>
&#x017F;ich davor zu fürchten anfängt. So etwas merkt die<lb/>
Menge &#x017F;chnell, und <hi rendition="#g">verfolgt</hi> dann er&#x017F;t mit Con-<lb/>
&#x017F;equenz das vor ihr laufende Wild, über das &#x017F;ie frü-<lb/>
her, &#x017F;o lange es ihr Stand hielt, und keck in die Au-<lb/>
gen &#x017F;ah, nur erfolglo&#x017F;e Glo&#x017F;&#x017F;en zu machen wagte.<lb/>
Für die <hi rendition="#g">Welt</hi> giebt es überhaupt keine be&#x017F;&#x017F;ere Lehre<lb/>
als: <hi rendition="#aq">Bouche riante et front d&#x2019;airain, et vous passez<lb/>
partout</hi>. Wir Deut&#x017F;che &#x017F;ind fa&#x017F;t immer zu ern&#x017F;t,<lb/>
wie zu timide, und nur im Stande momentane Efforts<lb/>
gegen die&#x017F;e Fehler zu machen, bei welchen Ver&#x017F;uchen<lb/>
wir überdies auch das Ziel leicht <hi rendition="#g">über&#x017F;</hi>chießen. Aus<lb/>
die&#x017F;em Grunde haupt&#x017F;ächlich lieben wir wohl &#x017F;o die<lb/>
Zurückgezogenheit, und verkehren am lieb&#x017F;ten blos<lb/>
mit un&#x017F;erer Phanta&#x017F;ie, als treuer Ge&#x017F;ell&#x017F;chafterin &#x2014;<lb/>
&#x017F;ouveraine Herren im Reiche der Luft, &#x2014; wie Frau<lb/>
v. Sta<hi rendition="#aq">ë</hi>l &#x017F;agt. Die große Welt wie &#x017F;ie i&#x017F;t, gefällt<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[251/0275] zu Hauſe geſchickt, oder als ein Märtyrer geſteinigt und gekreuzigt werden. Die Geſchichte lehrt dies auf jeder Seite. Was hier auf das Allgemeine Anwen- dung findet, iſt aber auch der Fall mit dem Einzel- nen, und nach alle dem — parlez moi raison, si vous l’osez. Doch muß ich eins im Ernſte ſagen. Wer einmal zu freimüthig geboren iſt, und ſelbſt die all- gemeine Meinung wenig achtet, wenn ſie nur eine gemeine iſt — der bleibe ja ſein ganzes Leben ſo. Die Folgen einer ſolchen Denkungsart, und die An- feindungen denen ſie ausſetzt, werden nur dann ſchmerzlich empfunden, und zuletzt gefährlich, wenn man, ſchwach geworden, aufhört ſelbſtſtändig zu ſeyn, und ſtatt, wie bisher, fremde Meinung zu verachten, ſich davor zu fürchten anfängt. So etwas merkt die Menge ſchnell, und verfolgt dann erſt mit Con- ſequenz das vor ihr laufende Wild, über das ſie frü- her, ſo lange es ihr Stand hielt, und keck in die Au- gen ſah, nur erfolgloſe Gloſſen zu machen wagte. Für die Welt giebt es überhaupt keine beſſere Lehre als: Bouche riante et front d’airain, et vous passez partout. Wir Deutſche ſind faſt immer zu ernſt, wie zu timide, und nur im Stande momentane Efforts gegen dieſe Fehler zu machen, bei welchen Verſuchen wir überdies auch das Ziel leicht überſchießen. Aus dieſem Grunde hauptſächlich lieben wir wohl ſo die Zurückgezogenheit, und verkehren am liebſten blos mit unſerer Phantaſie, als treuer Geſellſchafterin — ſouveraine Herren im Reiche der Luft, — wie Frau v. Staël ſagt. Die große Welt wie ſie iſt, gefällt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830/275
Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830/275>, abgerufen am 19.04.2024.