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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830.

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der Form, aber, wie mir schien, doch auch ächt fromm
in der That ist. Wir setzten uns Alle im Kreise hin,
dann las die Mutter einen Satz aus dem englischen
Prayerbook, die älteste Tochter den nächsten, und so
fortdauernd vice versa, Prediger und Küster in der
Kirche nachahmend. Hierauf begann die Tochter,
welche etwas Verschlossenes und Schwärmerisches hat,
ein besonderes, sehr langes Gebet, das wohl eine
Viertelstunde dauerte, während welchem alle Andere
(ich natürlich auch) sich schamhaft gegen die Wand
kehren, vor ihrem Stuhl auf die Kniee fallen, und
das Gesicht in die Hände legen mußten. Die Mut-
ter seufzte und stöhnte, der Hausherr schien ein we-
nig ennuyirt, die jüngste Tochter (ein allerliebstes
Mädchen, die ein gutes Theil mondainer als die äl-
teste gesinnt ist) hatte hie und da Zerstreuungen, der
Sohn aber es gar, für besser gehalten, sich ganz zu
absentiren. Ich, bei dem jeder nach innen gerichtete
Gedanke zu jeder Tageszeit ein Gebet zu Gott ist,
glaubte, ohne unfromm zu seyn, hier ein wenig nach
außen beobachten zu dürfen.

Nachdem die Gesellschaft wieder aufgestanden war,
die Knie abgewischt, und die Röcke heruntergezupft
hatte, denn der englische Enthusiasmus vergißt sich
nicht so leicht, wurde eine Geschichte aus dem Evan-
gelio von der Mutter gelesen. Man hatte diesmal
die Mahlzeit gewählt, wo 6000 Mann mit zwei Fi-
schen und drei Brodten, wenn ich nicht irre, gesättigt
wurden, und noch gar viel übrig blieb.

der Form, aber, wie mir ſchien, doch auch ächt fromm
in der That iſt. Wir ſetzten uns Alle im Kreiſe hin,
dann las die Mutter einen Satz aus dem engliſchen
Prayerbook, die älteſte Tochter den nächſten, und ſo
fortdauernd vice versa, Prediger und Küſter in der
Kirche nachahmend. Hierauf begann die Tochter,
welche etwas Verſchloſſenes und Schwärmeriſches hat,
ein beſonderes, ſehr langes Gebet, das wohl eine
Viertelſtunde dauerte, während welchem alle Andere
(ich natürlich auch) ſich ſchamhaft gegen die Wand
kehren, vor ihrem Stuhl auf die Kniee fallen, und
das Geſicht in die Hände legen mußten. Die Mut-
ter ſeufzte und ſtöhnte, der Hausherr ſchien ein we-
nig ennuyirt, die jüngſte Tochter (ein allerliebſtes
Mädchen, die ein gutes Theil mondainer als die äl-
teſte geſinnt iſt) hatte hie und da Zerſtreuungen, der
Sohn aber es gar, für beſſer gehalten, ſich ganz zu
abſentiren. Ich, bei dem jeder nach innen gerichtete
Gedanke zu jeder Tageszeit ein Gebet zu Gott iſt,
glaubte, ohne unfromm zu ſeyn, hier ein wenig nach
außen beobachten zu dürfen.

Nachdem die Geſellſchaft wieder aufgeſtanden war,
die Knie abgewiſcht, und die Röcke heruntergezupft
hatte, denn der engliſche Enthuſiasmus vergißt ſich
nicht ſo leicht, wurde eine Geſchichte aus dem Evan-
gelio von der Mutter geleſen. Man hatte diesmal
die Mahlzeit gewählt, wo 6000 Mann mit zwei Fi-
ſchen und drei Brodten, wenn ich nicht irre, geſättigt
wurden, und noch gar viel übrig blieb.

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[34/0056] der Form, aber, wie mir ſchien, doch auch ächt fromm in der That iſt. Wir ſetzten uns Alle im Kreiſe hin, dann las die Mutter einen Satz aus dem engliſchen Prayerbook, die älteſte Tochter den nächſten, und ſo fortdauernd vice versa, Prediger und Küſter in der Kirche nachahmend. Hierauf begann die Tochter, welche etwas Verſchloſſenes und Schwärmeriſches hat, ein beſonderes, ſehr langes Gebet, das wohl eine Viertelſtunde dauerte, während welchem alle Andere (ich natürlich auch) ſich ſchamhaft gegen die Wand kehren, vor ihrem Stuhl auf die Kniee fallen, und das Geſicht in die Hände legen mußten. Die Mut- ter ſeufzte und ſtöhnte, der Hausherr ſchien ein we- nig ennuyirt, die jüngſte Tochter (ein allerliebſtes Mädchen, die ein gutes Theil mondainer als die äl- teſte geſinnt iſt) hatte hie und da Zerſtreuungen, der Sohn aber es gar, für beſſer gehalten, ſich ganz zu abſentiren. Ich, bei dem jeder nach innen gerichtete Gedanke zu jeder Tageszeit ein Gebet zu Gott iſt, glaubte, ohne unfromm zu ſeyn, hier ein wenig nach außen beobachten zu dürfen. Nachdem die Geſellſchaft wieder aufgeſtanden war, die Knie abgewiſcht, und die Röcke heruntergezupft hatte, denn der engliſche Enthuſiasmus vergißt ſich nicht ſo leicht, wurde eine Geſchichte aus dem Evan- gelio von der Mutter geleſen. Man hatte diesmal die Mahlzeit gewählt, wo 6000 Mann mit zwei Fi- ſchen und drei Brodten, wenn ich nicht irre, geſättigt wurden, und noch gar viel übrig blieb.

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/56>, abgerufen am 24.04.2024.