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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831.

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Sechster Brief.


Geliebteste!

Es ist mir zuweilen ein wahres Bedürfniß, einen
Tag ganz allein zu Haus zuzubringen, und dann
großentheils in einer Art von träumerischem Hinbrü-
ten zu durchleben, wo ich so lange Vergangnes und
Neues und alle Affekte durchlaufe, bis durch die Mi-
schung so vieles Bunten eine Nebelfarbe sich über
Alles breitet, und die Dissonanzen des Lebens sich
am Ende in eine sanfte, objektlose Rührung auflösen.
Recht unterstützt wird man hier in solcher Stimmung
durch die, mir sonst sehr unausstehlichen Drehorgeln,
die Tag und Nacht in allen Straßen ertönen. Auch
sie leyern im wilden Wirbel hundert Melodieen un-
tereinander, bis alle Musik sich in ein träumerisches
Ohrenklingen verliert.

Amüsanter ist dagegen ein anderes hiesiges Straßen-
spiel, eine ächte National-Comödie, die eine etwas


Sechster Brief.


Geliebteſte!

Es iſt mir zuweilen ein wahres Bedürfniß, einen
Tag ganz allein zu Haus zuzubringen, und dann
großentheils in einer Art von träumeriſchem Hinbrü-
ten zu durchleben, wo ich ſo lange Vergangnes und
Neues und alle Affekte durchlaufe, bis durch die Mi-
ſchung ſo vieles Bunten eine Nebelfarbe ſich über
Alles breitet, und die Diſſonanzen des Lebens ſich
am Ende in eine ſanfte, objektloſe Rührung auflöſen.
Recht unterſtützt wird man hier in ſolcher Stimmung
durch die, mir ſonſt ſehr unausſtehlichen Drehorgeln,
die Tag und Nacht in allen Straßen ertönen. Auch
ſie leyern im wilden Wirbel hundert Melodieen un-
tereinander, bis alle Muſik ſich in ein träumeriſches
Ohrenklingen verliert.

Amüſanter iſt dagegen ein anderes hieſiges Straßen-
ſpiel, eine ächte National-Comödie, die eine etwas

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[[136]/0176] Sechster Brief. London, den 25ſten Nov. 1826. Geliebteſte! Es iſt mir zuweilen ein wahres Bedürfniß, einen Tag ganz allein zu Haus zuzubringen, und dann großentheils in einer Art von träumeriſchem Hinbrü- ten zu durchleben, wo ich ſo lange Vergangnes und Neues und alle Affekte durchlaufe, bis durch die Mi- ſchung ſo vieles Bunten eine Nebelfarbe ſich über Alles breitet, und die Diſſonanzen des Lebens ſich am Ende in eine ſanfte, objektloſe Rührung auflöſen. Recht unterſtützt wird man hier in ſolcher Stimmung durch die, mir ſonſt ſehr unausſtehlichen Drehorgeln, die Tag und Nacht in allen Straßen ertönen. Auch ſie leyern im wilden Wirbel hundert Melodieen un- tereinander, bis alle Muſik ſich in ein träumeriſches Ohrenklingen verliert. Amüſanter iſt dagegen ein anderes hieſiges Straßen- ſpiel, eine ächte National-Comödie, die eine etwas

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. [136]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/176>, abgerufen am 28.03.2024.