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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831.

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artet sonst aus. Für das Allgemeine bleibt aber im-
mer die beste Richtschnur das einfache, und eben so
Jedem verständliche Christuswort:

"Thue Andern (und auch Dir selbst) nichts, was
Du nicht willst, daß andere Dir thun."

So lange wir Alle jedoch noch keine Christen sind,
und ich möchte fast sagen, seyn können, muß es den-
noch Ausnahmen erdulden, wie zum Beispiel den Fall
des angeführten Soldaten, oder die eben so wenig
praktisch zu verwerfenden Ehrengesetze für gewisse
Stände, und dann bleibt freilich kein anderer Aus-
weg, als, wo man selbst die Ausnahme machen muß,
auch dem Andern, sich ihm gleichfalls zum Opfer
bringend, dasselbe zu gestatten. Damit rettet man
nothdürftig die Liebe, wenigstens diejenige Gerechtig-
keit, welche das jus talionis genannt wird.

Der aber hat ein glückliches, ein genußreiches Le-
ben, dem es Natur und Umgebung leicht machten, im
gewohnten Gleise stets bleiben zu können, von An-
fang an gut zu seyn, und liebend und sittlich! Der
erste Fehler schon macht es schlimm, denn wie unser
philosophischer Dichter so wahr sagt:

"Das eben ist der Fluch des Bösen,
"Daß es fortwuchernd immer Böses muß gebähren!"

Und immer ist die Wiedergeburt auf dieser Welt
auch nicht zu erlangen -- ja es mag wohl die höchste
Wohlthat der ewigen Liebe seyn, daß sie den Tod ge-
schaffen, damit er die verworren gewordene Schrift

artet ſonſt aus. Für das Allgemeine bleibt aber im-
mer die beſte Richtſchnur das einfache, und eben ſo
Jedem verſtändliche Chriſtuswort:

„Thue Andern (und auch Dir ſelbſt) nichts, was
Du nicht willſt, daß andere Dir thun.“

So lange wir Alle jedoch noch keine Chriſten ſind,
und ich möchte faſt ſagen, ſeyn können, muß es den-
noch Ausnahmen erdulden, wie zum Beiſpiel den Fall
des angeführten Soldaten, oder die eben ſo wenig
praktiſch zu verwerfenden Ehrengeſetze für gewiſſe
Stände, und dann bleibt freilich kein anderer Aus-
weg, als, wo man ſelbſt die Ausnahme machen muß,
auch dem Andern, ſich ihm gleichfalls zum Opfer
bringend, daſſelbe zu geſtatten. Damit rettet man
nothdürftig die Liebe, wenigſtens diejenige Gerechtig-
keit, welche das jus talionis genannt wird.

Der aber hat ein glückliches, ein genußreiches Le-
ben, dem es Natur und Umgebung leicht machten, im
gewohnten Gleiſe ſtets bleiben zu können, von An-
fang an gut zu ſeyn, und liebend und ſittlich! Der
erſte Fehler ſchon macht es ſchlimm, denn wie unſer
philoſophiſcher Dichter ſo wahr ſagt:

„Das eben iſt der Fluch des Böſen,
„Daß es fortwuchernd immer Böſes muß gebähren!“

Und immer iſt die Wiedergeburt auf dieſer Welt
auch nicht zu erlangen — ja es mag wohl die höchſte
Wohlthat der ewigen Liebe ſeyn, daß ſie den Tod ge-
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[330/0376] artet ſonſt aus. Für das Allgemeine bleibt aber im- mer die beſte Richtſchnur das einfache, und eben ſo Jedem verſtändliche Chriſtuswort: „Thue Andern (und auch Dir ſelbſt) nichts, was Du nicht willſt, daß andere Dir thun.“ So lange wir Alle jedoch noch keine Chriſten ſind, und ich möchte faſt ſagen, ſeyn können, muß es den- noch Ausnahmen erdulden, wie zum Beiſpiel den Fall des angeführten Soldaten, oder die eben ſo wenig praktiſch zu verwerfenden Ehrengeſetze für gewiſſe Stände, und dann bleibt freilich kein anderer Aus- weg, als, wo man ſelbſt die Ausnahme machen muß, auch dem Andern, ſich ihm gleichfalls zum Opfer bringend, daſſelbe zu geſtatten. Damit rettet man nothdürftig die Liebe, wenigſtens diejenige Gerechtig- keit, welche das jus talionis genannt wird. Der aber hat ein glückliches, ein genußreiches Le- ben, dem es Natur und Umgebung leicht machten, im gewohnten Gleiſe ſtets bleiben zu können, von An- fang an gut zu ſeyn, und liebend und ſittlich! Der erſte Fehler ſchon macht es ſchlimm, denn wie unſer philoſophiſcher Dichter ſo wahr ſagt: „Das eben iſt der Fluch des Böſen, „Daß es fortwuchernd immer Böſes muß gebähren!“ Und immer iſt die Wiedergeburt auf dieſer Welt auch nicht zu erlangen — ja es mag wohl die höchſte Wohlthat der ewigen Liebe ſeyn, daß ſie den Tod ge- ſchaffen, damit er die verworren gewordene Schrift

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/376>, abgerufen am 28.03.2024.